Klartext: Leben im Diessseits

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Diess behauptete vergangene Woche gegenüber der Bild am Sonntag allen Ernstes: "In den letzten 30 Jahren gab es keine Industriepolitik." Die deutsche Autoindustrie sei "noch nie gefördert worden". Mit den Dieselgipfeln, auf denen für Volkswagens geprellte Kunden schockierend wenig herauskam, habe man sich "viel zu lange aufgehalten". Klar, Diess will den längst nicht vollständig aufgerollten, riesigen Industriebetrugsfall unter den Teppich kehren. Aber mit welcher Chutzpe er das tut, ja: welcher inbrünstigen Überzeugung, lässt mich daran zweifeln, dass Herberts Hirn denselben Kosmos bewohnt wie wir. Ganz sicher hat er keinerlei Ahnung von den Gefühlen seiner Kunden und noch viel weniger Interesse daran.

Diess wird gescheuert

Nur Diess schafft es, dass man ausgerechnet Verkehrsminister Andreas Scheuer vorbehaltlos zustimmen muss. Er erwiderte auf Diess' Phantasien: "Es geht nicht darum, auf Autoshows immer wieder neu auf Hochglanz polierte Modellwagen unter einem Tuch hervorzuzaubern", sondern es gehe darum, Produkte auf die Straße zu bringen, die Käufer in Sachen Design, Alltagstauglichkeit und Preis überzeugen.

Ja, VW hatte den gelungenen e-Golf. Sie hatten jedoch keine Antwort auf die Preisfrage - der kleine e-Up kostete bis vor Kurzem fast 27.000 Euro. Sie hatten keine Antwort auf größere Fahrzeugklassen, in deren Preisgefüge man die Batterie hineinargumentieren kann (Tesla Model S, Tesla Model X (Test), Jaguar I-Pace). Erst jetzt im Herbst kann man mit Audis E-tron ein elektrisches SUV aus dem Volkswagen-Konzern vorbestellen, auch das zwar mit wenigstens eigener Bodengruppe, aber nicht auf dediziertem Elektro-Chassis.

Scheuer erinnerte außerdem an die Milliarden an Euro, die der Staat nicht nur in Infrastruktur, sondern auch direkt in die Taschen der Autokonzerne steckte, damit sie mit dieser kleinen Unterstützung alternative Antriebe entwickeln. Scheuer: "Man sollte meinen, dass man aus diesem Geld einiges machen kann. Beispiel: tolle Autos, die die Verbraucher begeistern. Oder Nutzfahrzeuge produzieren, die unsere Logistikbranche überzeugen. Oder Busse herstellen, die man im öffentlichen Nahverkehr schnell einsetzen kann. Wenn ich mich draußen umsehe, dann brauchen wir unbedingt solche Fahrzeuge, aber nur, sie stammen momentan leider zu wenig von deutschen Herstellern."

Warum nicht mal kein Psychopath?

Es wird mir immer rätselhafter, wie man Top-Manager in der Autobranche wird. Der funktionale Psychopath findet gern seine Gesellschaftsnische in einem Management-Job. Meine belastbarste These daher: Es gibt auch in der Autoindustrie Seilschaften funktionaler Psychopathen, die sich gegenseitig in Spitzenpositionen hineinschuhlöffeln. Dennoch fällt mir die Vorstellung schwer, dass selbst andere Psychopathen sich je einig waren: "Wir löffeln den Diess!" Wo die Welt doch so voller geschickterer Psychos ist! Vielleicht unterschätze ich hier den Herbert. Vielleicht ist er ein unheimlich charmanter Mensch, der seinen Mangel an Führungs-Charakter mit einem Flutlicht von Charisma überstrahlen gelernt hat.

Dann versteckt er das aber extrem gut. Letztendlich ist es wurscht, denn Diess ist nur ein besonders grauenvolles Beispiel aus dieser Ellbogenkultur. Wie wäre es denn anlässlich des Neuaufbruchs von Volkswagen, wenn mal KEIN funktionaler Psychopath die Firma führt, sondern egal welcher Mensch mit Mitgefühl, und sei es nur für die eigenen Kunden? Die Auswahl ist unbegrenzt, das Risiko minimal, denn schlimmer als Diess kann es schon mal nicht werden. (cgl)