Blind vorausschauend

Inhaltsverzeichnis

Das Einzige, was man bei dem Aufwand spart, ist ein Differenzial und eine Differenzialsperre: Beides wird durch die mehr oder weniger geschlossene Lamellenkupplung simuliert. Doch auch damit handelt man sich Probleme ein: Reibung erzeugt nunmal Hitze und wenn die zu groß ist, schaltet sich das Ganze sicherheitshalber ab – oder zumindest in einen weniger effektiven Modus um. Die Zulieferer legen deshalb in ihren Produktbeschreibungen auch großen Wert auf die Überhitzungssicherheit ihrer Bauteile, Magna preist seine Dynamax-Lamellenkupplung mit den Worten: "Die hohe thermische Belastbarkeit hilft, eine Abschaltung infolge Überhitzung durch Bergauffahren oder Anhängerbetrieb zu vermeiden". Ausgerechnet, wenn ich den Allradantrieb wirklich brauche, muss ich also mit einer Abschaltung rechnen? Wer braucht eigentlich ein Spielzeug statt eines Fahrzeugs? Mit einem Differenzial anstelle der Kupplung könnte so etwas gar nicht erst passieren.

Nicht nur für den Wald

Früher war der Nachteil einer automatischen Zuschaltung mit aktiver Lamellenkupplung offenkundig: Ein verzögerter Krafteinsatz aufgrund der nötigen Drehzahldifferenz. Im Gelände konnte das dazu führen, dass sich die primären Antriebsräder eingegraben haben, bevor die zugeschalteten genügend Schub brachten – und die Fuhre feststeckte. Oder dass an einem schräg befahrenen Steilhang die Vorderachse bereits talwärts abschmierte, bevor die Kraft hinten ankam. Das führte unter anderem zur Entwicklung der vierten Haldex-Generation, die deshalb von einer aktiven zu einer passiven Kupplung umgebaut wurde. Solche Probleme sind heute weitgehend Geschichte und waren eh nur für Waldbesitzer interessant. Heute sind zudem die Ansprüche an Fahrdynamik und Sicherheit auf Asphalt deutlich gestiegen.

Mercedes-Benz schreibt: "Für die vollvariable Momentenverteilung sorgt die in das Hinterachsgetriebe integrierte, elektrohydraulisch betätigte Lamellenkupplung. Grundsätzliches Prinzip: Ist die Lamellenkupplung offen, treibt fast ausschließlich die Vorderachse das Fahrzeug an. Bei geschlossener Kupplung kommt die Hinterachse ins Spiel. Allerdings können die Antriebsmomente situations­abhängig vollvariabel zwischen Vorder- und Hinterachse verschoben werden (torque on demand)". Das wird einerseits mithilfe von Schlupfsensoren erkannt, andererseits kann die Kupplung gewissermaßen vorausschauend geschlossen werden, um den Schlupf gar nicht erst entstehen zu lassen. Dritte Möglichkeit: Man lässt den Fahrer eingreifen, indem man ihn auf Knopfdruck die Kupplung schließen lässt – bis sie sich ab etwa 15 km/h (je nach Hersteller) wieder automatisch öffnet. In diesem meistens "Lock" genannten Modus kann beiden Achsen zwangsweise je die Hälfte der Antriebsleistung fest zugeteilt, also ein gesperrtes Mitteldifferenzial simuliert werden. Das ist praktisch zum Anfahren am Berg oder aus schwerem Schlamm. Noch ein Argument für eine handvoll Förster, unser Thema ist aber am CLA aufgehängt. Was also passiert auf der Straße – die Hersteller sprechen doch immer von verbesserter Sicherheit?

Alle tun das Gleiche, manchmal sogar BMW

BMW schreibt: "Anders als herkömmliche Allradsysteme, die lediglich auf bereits durchdrehende Räder reagieren, kann xDrive anhand der vom DSC (der Fahrdynamikregelung) zur Verfügung gestellten Daten jede Tendenz zum Über- oder Untersteuern bereits frühzeitig erkennen und ihr durch eine veränderte Verteilung des Antriebsmoments proaktiv entgegenwirken. Droht das Fahrzeug beispielsweise über die Vorderräder nach außen zu schieben, wird sofort ein höherer Anteil der Antriebskraft an die Hinterräder geleitet. Ebenso vorausschauend kann auch dem Ausbrechen der Hinterräder entgegengewirkt werden, indem überschüssige Kraft an die Vorderachse gelenkt wird." Magna beliefert Kia (für Sportage und Sorento) mit dem Allradsystem Dynamax™ und schreibt fast wörtlich das Gleiche wie BMW: "Im Gegensatz zu anderen Allradantriebssystemen, die lediglich nachträglich auf Bedingungen reagieren können, ist Dynamax™ in der Lage, die Anforderungen an das Allradsystem laufend zu prognostizieren. Die intelligente Steuerung von Dynamax™ führt eine ständige Analyse der Daten aus der Fahrzeugsteuerung durch. Durch die elektrohydraulisch aktuierte Lamellenkupplung ist die hohe Steuerbarkeit des Allradsystems gegeben. Dieses Systemverhalten ist für den Fahrer vollständig transparent". Man benutzt also in beiden Fällen und genau wie fast alle Hersteller die gezielte Verteilung der Antriebsleistung geschickt zur Stabilisierung des Fahrzeugs.

Blind vorausschauend

Genau dieser Effekt aber kann in Form sogenannter Gierwinkelimpulse das Fahrzeug aber auch vollkommen ungewollt destabilisieren. Stellen Sie sich einen sonnigen Wintertag vor mit trockener Straße und vom Antrieb nicht vorhersehbarem Glatteis in einer schattigen Kurve. "Proaktiv" geht hier rein gar nichts – der Antrieb wird also reagieren, wenn das Fahrzeug auf dem Eis instabil wird – und kann dann die Lage durch seinen blitzschnellen Einsatz noch verschlimmern. Denn sobald die Räder zur Seitenkraft auch noch Antriebsleistung übertragen müssen, kann der Wagen ausbrechen.