Digitalpolitik: Wo EU-Gesetzgebung den Unterschied macht

Seite 2: Angriff aufs Kerngeschäft

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Der äußere Druck auf die Brüsseler Gesetzgebungsmaschine wächst allerdings seit 2017. Mit dem US-Präsidenten Donald Trump machte man die Erfahrung, dass die Vereinigten Staaten als verlässlicher Partner teilweise wegbrechen könnten. Fast 450 Millionen EU-Bürger mit vergleichsweise hoher wirtschaftlicher Potenz ringen als Einheit organisiert wirksamer um internationale Märkte, Macht und Einfluss als 27 Einzelstaaten. Vor allem China, aber auch die USA versuchen seit Jahren, die EU-Staaten zu isolieren und zu bilateralen Vereinbarungen zu bewegen, um ihre Gesamtposition als EU nicht zu stark werden zu lassen.

Das Handeln der EU war zuletzt von diesen Zielen und den weltweiten Verwerfungen geprägt. Nach einer fast schon naiven "Wandel durch Handel"-Phase zuvor lauteten die Schlagworte in der vergangenen Legislatur stattdessen: Onshoring, Reshoring, Diversifizierung und De-Risking. Europa will weniger abhängig von China sein. 2023 haben die 27 EU-Staaten Güter und Dienstleistungen im Wert von 223,5 Milliarden Euro in die Volksrepublik exportiert und für 514 Milliarden Euro importiert.

Europas Wohlstand und Wohlergehen hängt aus EU-politischer Sicht derzeit zu sehr von den Launen der Machthaber in Peking ab. Das gilt sowohl bei Rohstoffen und Vorprodukten als auch bei der Solarindustrie und technischen Neuentwicklungen. Zudem wandelt sich China vom Lieferanten von Vorprodukten zum Anbieter kompletter Produkte und Dienstleistungen, und geht damit in Konkurrenz zum Kerngeschäft vieler EU-Unternehmen. Bei alledem möchten die EU-Verantwortlichen aber eine allzu offene Konfrontation vermeiden, wie sie etwa die USA wirtschaftspolitisch immer wieder sucht.

Neben dieser Auseinandersetzung dürfte auch eine andere Frage die kommenden Jahre bestimmen: Wird der langjährige chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping aufgrund der Krisen im eigenen Land womöglich das für die Digitalwirtschaft so wichtige, aus Sicht Festlandchinas abtrünnige Taiwan angreifen, um es der Volksrepublik einzuverleiben? Viele der zuletzt verabschiedeten EU-Gesetze muss man in diesem Kontext betrachten. Die EU reguliert mit einigen Verordnungen und Richtlinien indirekt auch den Umgang mit der Volksrepublik. Und dabei ist sie stets auf der Suche nach einem Hebel, der diese Maßnahmen möglichst unpolitisch erscheinen lässt.

Auf keinen Fall sollen sich diplomatische Krisen wiederholen, wie sie die 5G-Debatte ausgelöst hatte. Der chinesische Anbieter Huawei liefert kritische Infrastruktur, während gleichzeitig EU-Alternativen aufgrund der Marktdominanz chinesischer Akteure unter die Räder zu kommen drohen. Dies stellte ein riesiges politisches Problem dar, auch, weil die Gefahr besteht, sich chinesische Backdoors in die europäische TK-Infrastruktur zu bauen. Nicht ohne Grund begann Ursula von der Leyen ihre Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin mit dem Versprechen einer "geopolitischen Kommission".

Heikle Diplomatie einer "geopolitischen Kommission": Der französische Präsident Emmanuel Macron (links) und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) sprachen Anfang April in Paris mit Chinas Staatschef Xi Jinping.

(Bild: Ludovic Marin/dpa)

Als Schlüsselstrategie gilt für sie das sogenannte De-Risking. Die EU soll darauf hinwirken, dass Unternehmen ihre Lieferketten diversifizieren und damit Abhängigkeiten von einzelnen Staaten verringern. Diese Strategie möchte sie in allen Sektoren umgesetzt sehen, egal ob bei Stahl, Batterien, Medizin, Chips, Clouds, Mobilfunk oder KI. Denn jede kritische Abhängigkeit bedeutet demnach, dass politische Probleme potenziell Probleme in der Wirtschaft zeitigen. Europa hat nun umfangreich Erfahrungen mit seinen einseitigen Energieabhängigkeiten von Russland gesammelt. Eine Eskalation in den Beziehungen zwischen China und Taiwan würde sie derzeit vor ein unlösbares Problem stellen.

Sollte Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl im November gewinnen, hätte das für Europa massive Auswirkungen. Denn nachdem 2021 mit Joe Biden die alte Verlässlichkeit in den EU-USA-Beziehungen und eine engere Kooperation zurückgekehrt ist, wäre mit Trump genau die wieder infrage gestellt. Dessen "America First"-Ansatz würde, so befürchten EU-Beamte, bei einer zweiten Amtszeit wahrscheinlich noch schwerer berechenbar und noch radikaler als in seiner ersten.

Daher plant man in der jetzigen EU-Kommission beim Begriff De-Risking auch immer eine Eintrübung der EU-US-Verhältnisse mit ein, ohne sie allzu direkt auszusprechen. Derzeit unter Joe Biden stehen die USA für einen stark investierenden Staat: Unternehmen ziehen Batterie-, Solar- und Chipfabriken mit Mitteln aus dem Inflation Reduction Act und anderen großen Subventionsmaßnahmen hoch, um chinesische Dominanz in Teilmärkten strategisch zu brechen. Auch Lieferketten mit anderen Staaten wurden vereinbart und gesichert. Beides müsste eigentlich auch die EU forcieren. Aber damit ist sie bei weitem nicht so weit gekommen, wie die Sonntagsreden einiger EU-Kommissare im Wahlkampf vermuten lassen.