Durow-Festnahme: Was dem Telegram-Gründer zum Verhängnis werden könnte
Die Festnahme Pavel Durows hat Spekulationen über die Gründe ausgelöst. Während manche einen Anschlag auf die Meinungsfreiheit sehen, ist der Fall komplexer.
Die Wellen schlagen hoch, seitdem Telegram-CEO Pavel Durow am Samstagabend in Frankreich festgenommen wurde. Die einen wittern eine politische Intrige gegen den laut Angaben von Telegram Doppelstaatsbürger der Republik Frankreich und der Vereinigten Arabischen Emirate, andere das Ende der Meinungsfreiheit. Wieder andere sehen die Festnahme als ersten Schritt hin zu mehr Verantwortlichkeit für Unternehmer, die davon profitieren, dass ihre Plattformen für kriminelle Zwecke missbraucht werden und zu wenig gegen derartige Aktivitäten unternehmen. Doch der Fall ist facettenreich – so wie das Telegram-Universum selbst.
Bei den Vorwürfen geht es im Kern – soweit am Montagabend bekannt – um eine Mitverantwortlichkeit Durows für Straftaten nach französischem Recht. Die Vorwürfe, welche die französische Staatsanwältin Laure Beccuau am Dienstag bekannt gab, sind dabei vielfältig – auch wenn weiter unklar ist, ob diese sich gegen Pavel Durow selbst richten. Formell wurde das Verfahren bislang gegen Unbekannt geführt.
Laut Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft geht es um eine mögliche Mitverantwortlichkeit für die Verbreitung von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, gewerbsmäßigen Betrug und die Zurverfügungstellung von Kryptodienstleistungen ohne Lizenz. Seit dem 8. Juli wurde laut den französischen Strafverfolgungsbehörden das Verfahren von den zuständigen Stellen in Frankreich betrieben. Es führte am 24. August 2024 zur Festnahme Durows, der noch bis Mittwoch in vorläufigem Gewahrsam bleiben könnte.
Juristisch komplex: Was Telegram eigentlich ist
Um die Vorwürfe einordnen zu können, ist ein Blick auf die Funktionsweise Telegrams und einige im Raum stehende Vorwürfe zentral. Am Anfang steht eine juristisch facettenreiche Frage: Was ist Telegram eigentlich? Klar ist: Telegram ist eine zentral betriebene Software, mit der Menschen vom jeweiligen Client aus einander Nachrichten schreiben, sowie Videos und Audioaufnahmen versenden können. Soweit, so Messenger – oder, wie es im Rechtsdeutsch heißt: ein interpersonaler, nummern-unabhängiger Kommunikationsdienst. Anbieter solcher Dienste unterliegen etwas anderen Regelungen als etwa Telefonanbieter und auch anderen als sonstige Plattformbetreiber im Netz.
Doch Telegram ist weit mehr als ein klassischer Messenger, was auch Teil seiner Popularität ist: Der Anbieter bietet Gruppenchat- und Channel-Funktionalitäten. Während in Gruppen alle Teilnehmer grundsätzlich Inhalte posten können, sind Channels als Einwegkanäle angelegt: Einer sendet und mehrere oder viele empfangen die Inhalte. Zudem können Inhalte frei über das Web abgerufen werden. Es handelt sich also, auch wenn das von Nutzern oft so wahrgenommen wird, nicht um mehrere geschlossene Benutzergruppen.
Die Funktionalitäten jenseits der Individualkommunikation, so wurde zumindest in der Vergangenheit etwa vom Bundesamt für Justiz in Sachen Netzwerkdurchsetzungsgesetz argumentiert, würden mehr die Eigenschaften eines Social Networks als eines Messengerdienstes erfüllen, welcher auf direkte Kommunikation zwischen einzelnen Nutzern ausgelegt ist. Genau das nimmt auch die EU-Kommission beim Digital Services Act an. Telegram hat nach eigenen Angaben in der EU 41 Millionen monatlich aktive Nutzer – und damit vier Millionen zu wenig, um als besonders große Onlineplattform (VLOP) zu gelten. Ob die Zählung der Firma selbst akkurat ist oder Telegram sich kleingerechnet hat, um diesen mit weiteren Pflichten verbundenen Status zu vermeiden, ist Gegenstand von Schriftwechseln zwischen der EU-Kommission als Aufsichtsbehörde für die größten Anbieter und der offiziell in Dubai residierenden Firma. Anders als bei anderen Behörden soll Telegram auf Schreiben der EU-Kommission reagieren. Der Anbieter wäre als Social Network und damit Hoster für die Inhalte Dritter zwar grundsätzlich nicht haftbar, bis er von möglichen Rechtsverstößen in Kenntnis gesetzt wird. Allerdings muss er dann angemessene Schritte ergreifen, wenn er – von Nutzern, Behörden oder Organisationen – auf problematische und womöglich rechtswidrige Inhalte hingewiesen wird.
Telegram und das Recht: Eine komplexe Beziehung
Genau das ist ein Kernvorwurf gegen Telegram: Der Betreiber soll unzureichende Maßnahmen gegen rechtswidrige Aktivitäten auf seinen Diensten ergriffen haben. Dieser Vorwurf wird gegen Telegram schon lange und wiederholt erhoben. So führt etwa der deutsche Anwalt Chan-jo Jun als Liste von Vorwürfen gegen die Betreiber an, dass "Beleidigungen, Verleumdung, Doxing, Nachstellung, Bedrohung, Verbreitung von allen Arten der Pornografie, Urheberrechtsverletzungen und Hasskriminalität" bei Telegram stattfänden. "Entfernt werden nach Meldungen gelegentlich Fälle von Missbrauchsdarstellungen", schrieb Jun auf der ebenfalls regelmäßig von ihm kritisierten und juristisch angegriffenen Plattform X. Die Vielzahl der nun von der französischen Staatsanwältin Laure Beccuau vorgetragenen Punkte deutet daraufhin, dass dies in Frankreich ähnlich gesehen wird.
Welche Rolle Telegram für manche Deliktsbereiche spielt, zeigt eine Anfrage aus dem niederländischen Parlament an die damalige Justizministerin. Darin wird unter anderem auf eine Vielzahl Anzeigen für harte und weiche Drogen auf der Plattform Bezug genommen – der niederländische Rundfunk NOS hatte nach eigenen Angaben 2,5 Millionen solcher Anzeigen aufgespürt, entsprechende Gruppen seien teils jahrelang aktiv. Telegram verwies darauf, dass man aktiv gegen solche Vorfälle vorgehe. Allerdings würde der Betreiber an solchen Anzeigen mitverdienen – sollte er diese nicht wirksam unterbinden und zugleich auch noch Entgelte für diese annehmen, ist das rechtlich in fast allen Staaten dieser Erde ein Problem.
Telegram und die Behörden: Miteinander, wenn Telegram will
Der Erfolg von Telegram ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass es sich als "sicheren Hafen" vor Zensur jeder Art darstellt. Die Software des Anbieters wird als vermeintlich sicherer Kanal rund um den Globus genutzt – auch von Terroristen und solchen, die nur in Teilen der Welt als diese betrachtet werden. Sie veröffentlichen unter anderem regelmäßig nach Anschlägen ihre Bekennerschreiben zuerst auf Telegram. In der EU gilt für derartige Inhalte die öffentlich wenig bekannte "Terrorism Content Online"-Verordnung, mit der Behörden die Entfernung eines Inhalts vom Anbieter im ersten Schritt fordern, in einem zweiten Schritt sogar anordnen können. 2023 meldete das in Deutschland zuständige BKA insgesamt 7240 Inhalte an die jeweiligen Hoster und erließ 249 Entfernungsanordnungen, denen laut des Transparenzberichts der Behörde gefolgt wurde. Wie viele davon Telegram betrafen, ist nicht bekannt – angesichts der Popularität der Plattform bei derartigen Nutzern dürfte jedoch auch Telegram davon betroffen sein.
Ein weiterer Komplex betrifft die Zusammenarbeit mit den Behörden bei Nutzerdaten, wenn konkrete Anhaltspunkte für Straftaten vorliegen. Diese ist über die Jahre laut Sicherheitskreisen sehr unterschiedlich gewesen. Telegram verfolgt grundsätzlich offiziell die Politik "Keine Herausgabe von Nutzerdaten an Behörden". Der Dienst hatte zeitweise polizeilichen Anfragen entsprochen – und das dann wieder eingestellt. Im April 2023 hatte die Bundesregierung auf Anfrage der Linken-Abgeordneten Anke Domscheit-Berg geantwortet, dass Telegram seit 2022 in 25 Fällen Bestandsdaten von Nutzern herausgegeben habe, 2023 soll Telegram das jedoch wieder eingestellt haben.
Ob aber derartige Probleme, die auch in Frankreich mit Telegram gesehen werden, ausreichten, um den Geschäftsführer und Mitgründer der Plattform in Mithaftung zu nehmen? Juristisch ist das zumindest heikles Terrain. Telegram besteht rechtlich aus mehreren Firmen in mehreren Staaten und mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Ob Pavel Durow als CEO persönlich eine Verantwortung im Sinne des französischen Unternehmensrechts oder des Strafrechts trägt, ist dabei Teil der Prüfungen, welche die französischen Behörden durchführen müssen.
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Möglicher Verstoß gegen Exportvorschriften für Verschlüsselung
Besonders viel Diskussionsstoff könnte zudem ein anderer Punkt erzeugen: Die Staatsanwaltschaft referenziert in ihrer Pressemitteilung den Wortlaut des französischen Gesetzes, das die Exportvorschriften für kryptografische Verfahren enthält. Unter anderem scheint Durow oder Anderen im Telegram-Umfeld vorgeworfen zu werden, unzulässigerweise Kryptografiedienste exportiert und Dritten zur Verfügung gestellt zu haben.
Der Vorwurf dürfte für einige Fragezeichen sorgen. Denn grundsätzlich verschlüsselt Telegram nur auf Transportebene zum Server, eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist nur bei Chats zwischen zwei Nutzern möglich und muss dazu erst aktiviert werden. Zudem ist die Sicherheit der hauseigenen MTProto2.0 genannten, aber quelloffenen Ende-zu-Ende-Verschlüsselungslösung immer wieder Gegenstand umfangreicher Diskussionen. Die französische Staatsanwaltschaft prüft aber offenbar, inwieweit Telegram im Allgemeinen und Durow im Besonderen mit der Verschlüsselung gegen das "Loi n° 2004-575 du 21 juin 2004 pour la confiance dans l'économie numérique" verstoßen haben könnten. Gewisse Verfahren sind unter dem französischen Recht genehmigungspflichtig – durch den Premierminister der Republik. Allerdings dürfte das Gesetz mangels Firmensitz in Durows Staatsbürgerschaftsgeberland Frankreich nur dann relevant sein, wenn die Entwicklung in Frankreich selbst stattgefunden hätte – was angesichts der Firmenhistorie wiederum unwahrscheinlich ist.
TONCOIN könnte Durows Hauptproblem werden
Doch all das könnte sich am Ende als Durows kleinstes Dilemma erweisen. Denn möglicherweise ist gar nicht Telegram und die damit verbundenen Schwierigkeiten am Ende das größte Problem. Sondern ein ganz anderer Bereich, der mit der Plattform zusammenhängt: The Open Network Coin, kurz TONCOIN. Die Kryptowährung wurde ursprünglich von Pavel Durows Bruder Nikolai entworfen, um eine Währung zu schaffen, in der Werbung innerhalb von Telegram gekauft werden kann und an denen Channelbetreiber mit mehr als 1000 Nutzern auf Telegram zu 50 Prozent beteiligt werden sollen. In Frankreich sind Kryptowährungen lizenzpflichtig – und Verstöße gegen diese Pflicht strafbar. Offiziell spielt Durow bei der Kryptowährung allerdings keine Rolle mehr – die Verwaltung wurde an eine Stiftung in Dubai abgegeben.
Ob sich die Vorwürfe gegen Durow richten oder er nur als Zeuge vernommen wird, soll die französische Justiz nun bis spätestens Mittwoch entscheiden. Und die sei unabhängig, der Verhaftung sei keinerlei politische Einflussnahme vorangegangen, betonte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Montagnachmittag in einer Mitteilung. Für Spekulationen aller Art bleibt bis zu einer Entscheidung also viel Zeit – und somit viele Möglichkeiten, die jeweils eigene Sicht auf der Plattform der eigenen Wahl zu verbreiten.
(nie)