Assistenzsysteme im Auto: Mängel bei der Verkehrszeichenerkennung

Die "Intelligent Speed Assistance" (ISA) ist ab Juli 2024 für alle Neuwagen in der EU Pflicht. Das Problem: Die Systeme sind keineswegs perfekt.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 556 Kommentare lesen
Kombiinstrument

Die Intelligent Speed Assistance (ISA) ist seit Juli 2022 für neu typgeprüfte und ab Juli 2024 für alle neu zugelassenen Pkw verpflichtend. ISA kombiniert die Verkehrszeichenerkennung mit einer Warnung bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung.

(Bild: Volkswagen)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Christoph M. Schwarzer
Inhaltsverzeichnis

Der Hyundai Ioniq 6 ist aktuell eines der besten Elektroautos, die es gibt. Aber seine Verkehrszeichenerkennung nervt. Immer wenn eine veränderte Geschwindigkeit identifiziert wird – also zum Beispiel 70 statt 100 km/h – macht der Hyundai einen kurzen Pieplaut. Wird das Tempolimit überschritten, gibt es zusätzlich einen mehrfachen Bing. Das System lässt sich in einem Untermenü abstellen, was dann allerdings bei jedem Fahrtantritt erneut gemacht werden muss.

Was der Hersteller aus Südkorea da konstruiert hat, ist eine strenge Auslegung der Verordnung (EU) 2021/1958 zur "Intelligent Speed Assistance" (ISA). Dass es auch anders geht, zeigt Mercedes. Hier werden selbstverständlich alle gesetzlichen Vorgaben erfüllt. Allerdings lässt die EU den Herstellern einen Interpretationsspielraum bei der ISA.

Die "Intelligent Speed Assistance" nach EU 2021/1958 gilt für alle seit dem 1. Juli 2022 neu typgeprüften Pkw, also für komplett neue oder frisch überarbeitete Automodelle. Ab 1. Juli 2024 greift die Verordnung für sämtliche erstmals in der EU zugelassenen Pkw. Im Alltag ergeben sich daraus zwei Probleme: Einerseits nerven die je nach Auslegung penetranten Warnungen. Noch ärgerlicher aber sind Falschmeldungen durch eine defizitäre Verkehrszeichenerkennung, die gleichfalls zu akustischen Warnungen führen. Die meisten Systeme arbeiten mit der Kombination aus einer Kamera, die Schilder erfassen soll und das nicht immer richtig macht, sowie dem hinterlegten Kartenmaterial. Die Verkehrszeichenerkennung gleicht die Position des Fahrzeugs mit den Daten der Karten ab und meldet zum Beispiel innerorts Tempo 50. So die Theorie.

Eine Möglichkeit der Warnung ist akustisch, also zum Beispiel durch ein Piepen. Die Warnung muss beim Neustart des Pkw aktiv sein, kann aber im Regelfall abgeschaltet werden. Das machen viele Autofahrer auch, weil die Verkehrszeichenerkennung Schilder zu oft falsch erkennt. Das diskreditiert die gut gemeinte Wirkung.

(Bild: Volkswagen)

Professor Andre Seeck, Direktor bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und Leiter der Abteilung Fahrzeugtechnik, kennt die Defizite der Verkehrszeichenerkennung. Seeck ist außerdem ehemaliger Präsident des Vereins EuroNCAP, der durch die Vergabe von bis zu fünf Sternen für die Sicherheit bekannt geworden ist. EuroNCAP verschärft die Standards permanent, um die Autoindustrie zu Verbesserungen zu zwingen, und Andre Seeck ist weiter in den Gremien stark engagiert.

Eine der Schwierigkeiten, so Seeck, sei der lange Zeitraum bei der Aktualisierung des Kartenmaterials. Es dauere von der tatsächlichen Änderung einer Geschwindigkeitsbegrenzung über die digitale Erfassung beim Kartendienstleister bis zur Umsetzung im Serienauto "grob eineinhalb Jahre". Eine Erfahrung, die wir in der Redaktion zum Beispiel in Hamburg machen können: Hier gab es an mehreren vierspurigen Bundesstraßen innerorts Tempo-60-Schilder. Die wurden im März nach einem Senatsbeschluss abgebaut; es darf logischerweise nicht mehr als 50 km/h gefahren werden. Eigentlich müssten moderne Fahrzeuge das über das Kartenmaterial wissen. Bisher hat das aber kein Testwagen gemacht – alle zeigen weiterhin 60 km/h als scheinbar erlaubt an.

EuroNCAP vergibt seit 2023 Extrapunkte, wenn das Kartenmaterial statt nach eineinhalb Jahren alle drei Monate aktualisiert wird. Mercedes erfüllt diese Anforderung. Die Level-3-fähigen EQS und S-Klasse gehen deutlich darüber hinaus; hier ist das Kartenmaterial ohnehin viel genauer (High Definition). Die beiden Luxuslimousinen haben außerdem ein erheblich leistungsstärkeres Backend. Ein Stück Zukunft, das sich Mercedes bezahlen lässt. Die Realität in den meisten Fahrzeugen auf der Straße ist, dass das Kartenmaterial veraltet ist und dementsprechend fehlerhaft sein kann.

Der nächste Kritikpunkt richtet sich gegen die Kamera-basierte Verkehrszeichenerkennung. Diese Systeme müssen aufwendig angelernt werden, um zum Beispiel ein echtes Schild von einem Aufdruck auf einer Lkw-Plane unterscheiden zu können. Fast jeder Fahrer eines Autos mit Verkehrszeichenerkennung berichtet allerdings von reproduzierbaren Stellen, an denen es Fehlfunktionen gibt.

Mercedes interpretiert die ISA anders: Das System warnt wie gesetzlich erlaubt ab drei Prozent Geschwindigkeitsüberschreitung und piept danach erst nach einer definierten Verzögerung von drei bis sechs Sekunden. Es lässt sich niederschwellig über die Mute-Taste am Lenkrad ausschalten. Der EQS (Bild) und die S-Klasse sind gegen Aufpreis Level 3-fähig und haben eine erheblich aufwendigere und besser funktionierende Intelligent Speed Assistance. Hier arbeiten die Systeme nahezu fehlerfrei.

(Bild: Christoph M. Schwarzer)

Die Verordnung (EU) 2021/1958 sieht vor, dass die korrekte Geschwindigkeitsbegrenzung auf mindestens 90 Prozent einer Gesamtteststrecke und mindestens 80 Prozent auf jeder der drei Straßenarten (innerorts, außerorts und Autobahnen) erkannt wird. Der streckenbasierte Ansatz wiederum führt zu einer hohen Varianz der tatsächlichen Funktionsfähigkeit – auf Autobahnen gibt es seltener Änderungen pro Fahrtkilometer als auf einer Bundesstraße. Im Grundsatz spiegelt diese Vorgabe letztlich die noch vorhandenen Defizite wider. Schließlich sollte eine Geschwindigkeitserkennung, die den Fahrer warnt, das aus einer perfekten Basis tun. Das aber ist nicht oder noch nicht der Fall.

Ob korrekt oder nicht, das Auto gleicht die per Kamera oder dem Kartenmaterial identifizierte Geschwindigkeitsbegrenzung mit der im Tachometer angezeigten Geschwindigkeit ab. Bei einer Überschreitung sind vier verschiedene Warnmechanismen erlaubt:

  • Eine kaskadierende akustische Warnung. Dieses Prinzip ist am weitesten verbreitet.
  • Eine kaskadierende Vibrationswarnung.
  • Ein haptisches Feedback durch das Beschleunigungspedal.
  • Eine Geschwindigkeitsregelfunktion.

Hyundai legt die Vorgaben im Ioniq 6 sehr eng aus. Mercedes nutzt die Interpretationsspannweite der EU-Verordnung dagegen anders. Auch hier wird akustisch gewarnt. Es muss gemäß der Verordnung aber erst ab drei Prozent Abweichung gewarnt werden; bei einem Limit von 100 km/h also erst bei einer Tachoanzeige von 103 km/h. Danach passiert bei Mercedes eine Sekunde nichts. In drei bis sechs weiteren Sekunden erfolgt die akustische Warnung, wobei der kürzere Zeitraum dann gewählt wird, wenn die Überschreitung größer ist und umgekehrt.

Ein exzellentes Elektroauto, aber mit einer nervigen Auslegung der ISA: Der Hyundai Ioniq 6. Er piept, sobald eine Veränderung (!) der Geschwindigkeit erkannt wird und bringt zusätzlich sofort, wenn die erlaubte Geschwindigkeit überschritten wird.

(Bild: Christoph M. Schwarzer)

Bei Mercedes ist es auch einfacher möglich, die akustische Warnung abzustellen. Zwar sind auch die Stuttgarter daran gebunden, dass das System bei jedem Neustart aktiv sein muss. Es lässt sich jedoch über vier verschiedene Möglichkeiten schnell abschalten. Die simpelste ist das lange Drücken der Mute-Taste im Lenkrad. Mercedes verzichtet anders als Hyundai auch auf die "Change Speed Limit Notification". Es gibt keine akustische Warnung, wenn eine Veränderung(!) der Geschwindigkeitsbegrenzung erkannt wird. Dieses Setup ist im Rahmen der EU-Verordnung erlaubt.

Die Lebenswirklichkeit hält mit den Wünschen hinter der Verordnung (EU) 2021/1958 zur "Intelligent Speed Assistance" noch nicht mit. Zwar werden die gesetzlichen Vorgaben von der Autoindustrie erfüllt. Aber in der Realität kommt es weiterhin zu häufig vor, dass Tempolimits falsch erkannt und dem Fahrer kommuniziert werden. Wenn die Menschen nicht durch eine unvollkommene Geschwindigkeitserkennung verprellt werden sollen, muss es einen erheblichen Fortschritt geben. Es hilft niemandem, wenn solche Systeme abgestellt werden, weil sie nicht richtig funktionieren oder nerven.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Umfrage (Opinary GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Opinary GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

(mfz)