Missing Link: 20 Jahre 12. September 2001

Seite 2: Terror live

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CNN zeigte live, wie ein zweites Flugzeug den Südturm des World Trade Center trifft.

(Bild: CNN)

Vermutlich standen die Politiker an jenem Tag im Bundestag noch unter dem starken Eindruck der Bilder, die sie am Vortag aus New York und Washington zu sehen bekamen. Normalerweise sind die Medien erst zur Stelle, wenn ein Terroranschlag bereits vorbei ist. Da zwischen den beiden Anschlägen auf das World Trade Center 17 Minuten vergingen, hatten die Fernsehanstalten anscheinend ausreichend Gelegenheit, das Geschehen ins Bild zu rücken. Live wurde übertragen, wie ein Jet in den zweiten Turm flog, zumal CNN schon kurz nach dem Einschlag eines Jets in den Nordturm des Word Trade Center (WTC) Live-Bilder liefern konnte. Der Dauernachrichtensender hatte schon vorher eine permanente Kamera auf das WTC gerichtet, um es für Berichte und Kommentare als Hintergrundbild zu nehmen. So war dem Ereignis im Fernseher, im Radio und im Internet kaum zu entkommen, spätestens in der Familie oder unter Freunden war es sofort Thema unter dem Stichwort "Krieg gegen Amerika".

Die US-amerikanische Publizistin Susan Sontag kritisiert recht schnell die Berichterstattung: "Früher haben wir die einstimmig beklatschten und selbstgerechten Plattitüden sowjetischer Parteitage verachtet. Die Einstimmigkeit der frömmlerischen, realitätsverzerrenden Rhetorik fast aller Politiker und Kommentatoren in den Medien in diesen letzten Tagen ist einer Demokratie unwürdig."

Dabei war am 12. September 2001 noch nicht eindeutig geklärt, wer die Flugzeuge entführt und zu Waffen umfunktioniert hatte. Eine Deutung ergab sich aber schon schnell: Das "Ende der Geschichte", wie es 1989 vom Politikwissenschaftler Francis Fukuyama angesichts des Untergangs des Ostblocks postuliert wurde – der den radikalen Islam nicht als Bedrohung für den Westen gesehen hatte –, war definitiv nicht erreicht. Die Prinzipien von Demokratie, Liberalismus und Marktwirtschaft würden sich nach dem Ende des "real existierenden Sozialismus" wohl doch nicht letztlich so durchsetzen, wie es sich Fukuyama vorgestellt hatte.

Der Journalist und Schriftsteller Fareed Zakaria spricht in einem Newsweek-Artikel zum Herbstanfang 2001 vom "Ende vom Ende der Geschichte". Er konstatiert ein Ende des Triumphs der Wirtschaft und prophezeite: "Der Staat ist zurück." Der Krieg gegen den Terrorismus werde einer der Polizeiarbeit, der Geheimdienste und der verdeckten Aktionen sein.

Für Zakaria liegt die historische Bedeutung des 11. September 2001 nicht in der Aktion als solcher, sondern in den psychischen Reaktionen, die sie ausgelöst hatte, und den Interpretationen und Neuverortungen, die sofort vorgenommen wurden, obwohl die Hintergründe noch im Nebel lagen. So wie der SPD-Politiker Struck am 12. September 2001 im Bundestag: "Wir alle ahnen, dass sich die Weltordnung seit gestern verändert hat."

Zur Deutung der Ereignisse beigetragen hat wohl auch, dass das Internet – genauer: das Web – damals bereits ein Massenmedium war. Allerdings gerät es im September 2001 technisch an seine Grenzen. Am Tag der Anschläge und an den Folgetagen dient es als Drehscheibe für die Suche nach Information über die Katastrophe, nach Vermissten und der Hilfe für die Opfer. Besonders nachgefragt sind Angebote, die helfen wollen, Gewissheit über Leben oder Tod von Verwandten oder Freunden zu schaffen. Viele solche Webseiten sind dann wegen des großen Andrangs nur schwer oder dann gar nicht mehr zu erreichen.

Auch in Deutschland regt sich großes Interesse an den Ereignissen in den USA. Die Webseiten zu Agenturen und News-Sites werden stark belastet, Spiegel online bekam von heise online eine Art Fallback, um überhaupt erreichbar zu sein. Newsroom-Chef Jürgen Kuri besorgt Informationen für die Kollegen aus dem Urlaub auf einer Insel im Atlantik mit seinem Handy via WAP, damit diese die eigene Berichterstattung ergänzen konnten – und bekommt dafür eine gesalzene Telefonrechnung.

Die Telekommunikation ist auch von den Anschlägen direkt betroffen: Die Schaltzentrale der Telefongesellschaft Verizon in unmittelbarer Nähe der Zwillingstürme wird durch das Attentat außer Betrieb gesetzt. Dadurch wird der gesamte Telefonverkehr im Süden Manhattans beeinträchtigt, das Zentrum bediente 200.000 Zugangsleitungen und 3 Millionen Datenanschlüsse in dem Gebiet. 10 Prozent der Leitungen der Deutschen Telekom in New York sind gestört, im Keller des World Trade Center wird eine Schaltstelle von AT&T zerstört.

Kurz nach den Attentaten werden Stimmen laut, die der US-Regierung eine gewisse Mitschuld an den Ereignissen geben. Die Nachrichten-Website Cnet bezichtigt das US-amerikanische Außenministerium, durch den fortgesetzten Einsatz veralteter Computer in den Botschaften und Konsulaten keine wasserdichte Kontrolle von Visa-Anträgen ermöglicht zu haben. Von hier aus ist ein Bogen denkbar, der über die Anti-Terrorgesetze in den USA und auch in Deutschland zu verstärkter Überwachung bis hin zu den Aufdeckungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden gespannt werden könnte.