Missing Link: 20 Jahre 12. September 2001

Seite 4: PATRIOT ACT

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Gesetzesvorlage für den ‘‘Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001’’

(Bild: congress.gov)

Schon einen Monat nach 9/11 liegt dem US-Kongress der Gesetzentwurf zum "Provide Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism", kurz PATRIOT Act vor. Obwohl nicht erwiesen ist, dass sich die Selbstmord-Attentäter über das Internet koordiniert haben, drängt die US-Regierung den Kongress auf die Verabschiedung des Gesetzes. Darin sind über 40 mögliche Straftaten aufgeführt, zum Beispiel das unbefugte Eindringen in Computer. Unter anderem sollen die staatlichen Ermittler leichteren Zugang zu ungeöffneten E-Mails und Telefongesprächen von Verdächtigen bekommen. Der republikanische US-Senator Judd Gregg fordert derweil ernsthaft ein weltweites Verbot von Verschlüsselungssoftware.

Der PATRIOT Act wird schließlich am 26. Oktober 2001 vom US-Senat fast einstimmig verabschiedet; es gibt eine Enthaltung und nur der demokratische Senator Russel Feingold aus Wisconsin stimmt dagegen. Er warnt davor, bei der Verfolgung der Terroristen die Freiheiten der US-Bürger zu schwächen, die durch die Anschläge zerstört werden sollen. Zudem warnte er vor Diskriminierung der in den USA lebenden Araber, Südasiaten und Muslime. Ressentiments, die der 45. Präsident der USA 2017 mit einem Einreiseverbot für Menschen aus sechs überwiegend muslimischen Ländern aufgreift.

Erst 2013 wird durch die Veröffentlichungen des Whistleblowers Snowden bekannt, wie weit die US-Geheimdienste den durch den PATRIOT ACT an sie erteilten Auftrag auslegten. Vielleicht hätten die US-Amerikaner ohne Snowden nie erfahren, dass die NSA die Metadaten aller ihrer Telefonate sammelte.

Mit dem Freedom Act von 2015 beschließt der US-Kongress die umfassendste Reform des Spionagegesetzes seit Snowdens Enthüllungen. Die NSA darf danach auch weiterhin Festnetz- und Handyanschlüsse von Millionen US-Amerikanern überwachen, allerdings darf sie die Daten nicht mehr selbst speichern, sondern muss diese Aufgabe nach einer Übergangsfrist von sechs Monaten an die Telefongesellschaften abgeben. Nur bei begründetem Terrorverdacht und nach Beschluss des Geheimgerichts FISC darf die NSA die Daten abfragen.

Die Spionage im Ausland ist von der Reform nicht betroffen. Wenn an der Kommunikation Ausländer beteiligt sind, darf die NSA weiterhin ohne Anfangsverdacht und richterliche Erlaubnis E-Mails, SMS und Telefonate bei TK-Unternehmen abgreifen. Bekannt wurde, dass das FBI sich der von der NSA gesammelten E-Mails bedient, um diese zu durchsuchen. Dabei war schon spätestens im Jahr vor 9/11 an die Öffentlichkeit geraten, dass das FBI mit Carnivore E-Mail-Kommunikation überwachte.

Der Geheimdienstexperte Wayne Madsen sagt im Oktober 2001 im Gespräch mit Telepolis, die NSA hätten damals schon mehr Informationen gesammelt, als sie auswerten könnten. Auch schärfere Gesetze, bessere Informationswerkzeuge und ein Verbot der privaten Nutzung von Kryptographie würden nicht automatisch zu mehr Sicherheit führen. "Die Terroristen benutzen Kommunikationsmethoden aus der Steinzeit. Ich glaube, dass die Leute gar nicht so sehr auf High-Tech fixiert waren."

Am 14. September 2001 schließt der bayerische Datenschutzbeauftragte Reinhard Vetter Einschränkungen am Datenschutz nicht mehr aus. Es müssten die rechtlichen Grenzen erweitert werden, wenn sich Ermittler an einer "vernünftigen Strafverfolgung oder Aufklärung" dieser Terrorakte gehindert sähen. Wenn es erforderlich sei, die Befugnisse von Polizei oder Verfassungsschutz zu erweitern, müsse auch der Datenschutz einbezogen werden. Allerdings kritisiert Vetter, dass die Videoüberwachung ausgedehnt werden soll, was Bayerns damaliger Innenminster Günter Beckstein scharf anging. Gegenüber heise online erklärt Vetter allerdings, er könne sich in erhöhten Gefährdungssituationen einen Kameraeinsatz durch die Polizei vorstellen.

Vetters niedersächsischer Kollege Burckhard Nedden vermutet am 26. September 2001, dass es künftig schwer werde, in Deutschland Verbesserungen am Datenschutz durchzusetzen. Nach den Terroranschlägen in den USA seien Debatten darüber schwierig zu führen. Dabei hinke das Recht weiterhin der Technik hinterher. Es brauche jedoch auch künftig zeitgemäße rechtliche Rahmenbedingungen für den Datenschutz, um die Entwicklung und Anwendung der Informations- und Kommunikationstechnik steuern und beeinflussen zu können.

Der damalige Experte der SPD für Neue Medien Jörg Tauss befürchtet, die Anschläge könnten zum Anlass genommen werden, lange Geplantes umzusetzen. In den USA hatte da schon die Diskussion darüber eingesetzt, wie mit der Verschlüsselung der Kommunikation von Terrorverdächtigen umzugehen sei. Der baden-württembergische Landespolizeipräsident Erwin Hetger fordert Ende September 2001, die Überwachung des Internets erheblich zu verstärken. "Im Unterschied zu anderen Gefährdungslagen ist jetzt die verdeckte Erkenntnisgewinnung das A und O."

Im Januar 2002 versucht die deutsche Bundesregierung dem Terrorismus durch das seinerzeit von ihr beschlossene und fünf Jahre später ergänzte Terrorismusbekämpfungsgesetz zu begegnen. Ihre Sicherheitsstrategie zielte darauf ab, terroristische Strukturen zu zerstören und terroristische Aktivitäten vorab durch einen hohen Fahndungs- und Ermittlungsdruck aufzuklären und abzuwehren. Zudem sollten bereits die Ursachen des Terrorismus bekämpft werden.

Dabei meinte Innenminister Schily am 26. September 2001 zunächst, eine wirksamere Fernmeldeüberwachung in Deutschland hänge nur wenig von den "Veränderungen grundlegender Gesetze" ab. Viel wichtiger dafür seien, vorhandene Datenbestände sorgfältiger abzugleichen und ein gewissenhaft ausgewähltes und gut ausgebildetes Personal. Im Mai 2005 zieht Schily eine positive Bilanz. Vor allem die Auskunftsbefugnisse der Geheimdienste hätten "relevante Informationen erbracht, beispielsweise bei der Aufklärung von Finanztransaktionen zur indirekten Unterstützung des islamistischen Terrorismus, bei der Aufdeckung von Netzwerkstrukturen und der Ermittlung von Kontaktpersonen". Auch Schilys Nachfolger Wolfgang Schäuble lobt die Gesetze, neben der Aufklärung von Straftaten gehe es vor allem um Terror-Prävention.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar kritisiert den Beschluss der Bundesregierung im Sommer 2011 dazu, die Anti-Terrorgesetze erneut zu verlängern. Schon zum zweiten Mal sollten die seinerzeit unter Zeitdruck erlassenen Gesetze ohne gründliche, unabhängige Überprüfung verlängert, sogar die Befugnisse der Nachrichtendienste noch erweitert werden. Demgegenüber seien die wenigen Kompetenzen, auf die verzichtet werden solle, in der Vergangenheit kaum oder gar nicht genutzt worden.

Die Verschärfung der Einreisebestimmungen in den USA nimmt die Bundesregierung zum Anlass, zum 1. November 2005 den biometrischen Reisepass einzuführen. Aufsehen erregt auch die Übermittlung von Flugpassagierdaten an die USA und die Diskussion über eine Anti-Terror-Datei. Mehr noch zieht sich die Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten durch die Jahre.

Im August 2002 legt die damalige dänische EU-Ratspräsidentschaft einen Vorschlag vor, der eine Diskussion über die Rechte der Menschen an ihren Daten anstößt, die bis heute andauert. "Die Nutzung von Telekommunikationsdiensten ist so weit gewachsen, dass die Daten bezüglich der Nutzung, insbesondere die Verbindungsdaten, sehr nützliche Werkzeuge für die Untersuchung und Verfolgung von Straftaten darstellen", heißt es in der Einleitung zu dem Vorschlag. Daher sollten Kommunikationsdaten von Telefonaten und E-Mails in Europa ein Jahr lang gespeichert werden.

In einem neuen Anlauf, die Vorratsdatenspeicherung europaweit einzuführen, ist im April 2004 die Rede von einer Speicherfrist von bis zu 36 Monaten. Bürgerrechtler kritisieren, die Überwachungspläne gingen über das eigentliche Ziel der Terrorismus-Bekämpfung hinaus. Nicht nur sollen die Verbindungsdaten alle Arten von Telefonie- und Datenkommunikation – einschließlich Messaging-Diensten und Voice-over-IP – erfasst werden, sondern möglicherweise auch die Verkehrsdaten von "Websitzungen".

Im Dezember 2005 beschließt das EU-Parlament eine Richtlinie zur Verpflichtung der TK-Unternehmen, Verbindungsdaten anlasslos bis zu zwei Jahre zu speichern. Die Umsetzung scheitert hierzulande bisher an juristischen Hürden, wegen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten ist sie derzeit ausgesetzt und wird vom Bundesverfassungsgericht und dem EuGH überprüft. Während sich Bürgerrechtler durch bisherige Urteile darin bestätigt sehen, dass anlasslose Massenüberwachung illegal ist, geben EU-Staatschefs und Innenminister der deutschen Länder nicht auf, zumal Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Herbst 2020 Ausnahmen vom grundrechtlich garantierten Schutz der Privatsphäre vorsehen.