Missing Link: Die wichtigste Sitzung in der BMW-Geschichte

Seite 4: Der rettende Fehler

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Dementsprechend stellte Mathern den Antrag, die Hauptversammlung zu vertagen. Die Verwaltung unter ihrem Wortführer Dr. Feith hielt dagegen. Mit "Ja“ solle stimmen, wer die Hauptverhandlung vertagt wissen wollte, um das MAN-Angebot zu prüfen. Dazu war die Mehrheit des gesamten Aktienstimmrechts notwendig. Das bedeutete 70 Prozent des im Saal vertretenen stimmberechtigten Kapitals musste sich für Feith und gegen eine Vertagung aussprechen, wenn er die Mercedes-Übernahmen retten wollte. Das Ergebnis war denkbar knapp, 70,5 Prozent für Feith, die Banken und Daimler hatten scheinbar gesiegt.

Jetzt stand aber, wie Hörst Mönnich in seinem Buch "BMW – eine deutsche Geschichte“ schreibt, Wolfgang Denzel, der Schöpfer des 700 und Wiener BMW-Importeur auf. Er hatte sich, wie es bei Mönnich heißt, im Vorfeld mit Roy Chapin, dem Vizechef des amerikanischen Autokonzerns AMC beraten. Er war mehr als irritiert darüber, dass die Entwicklungskosten für den 700 insgesamt als Verlust in der 1958er-Bilanz ausgeschrieben war.

Chapin hatte ihn darin bestärkt. In den USA sei es absolut unzulässig, ein Produkt vor Serienablauf komplett als Verlust abzuschreiben. Denzel wandte sich nun an den Vertriebschef und fragte: "Wie lange sind Sie mit dem 700er ausverkauft?“ "Auf zwei Jahre“, antwortete dieser. "Und im Export?“ "Drei Jahre“, lautete die Antwort. "Und da wagt man es die Güte dieses Produktes anzuzweifeln und schreibt es einfach ab?“, fragte Denzel empört in den Saal.

Nun sprang Mathern Denzel bei. Er trat an das Mikrofon, während er gleichzeitig in einem Büchlein blätterte. Es handelte sich um einen Kommentar zum Aktienrecht und er hatte die richtige Seite schnell gefunden. "Laut Paragraph 125, Absatz VII des Aktiengesetzes genügen 10 Prozent der Stimmen des Aktienkapitals zur Vertagung, wenn die Bilanzfeststellung beanstandet wird“, verkündete Mathern, "und wir beanstanden sie.“ Bei der Anfechtung der Bilanzfeststellung durch Mathern sind sich alle Chronisten wieder einig und auch bei deren Grund, der Abschreibung des 700 im Bilanzjahr 1958. Unklar ist jedoch, ob Wolfgang Denzel tatsächlich selbst mit dieser Idee aufgetreten war.

Letztendlich konnte Hans Feith nur noch feststellen, dass die Beschlussfassung über die Herabsetzung des Grundkapitals und damit die Mercedes-Übernahme vertagt wurde. Er wollte die Versammlung damit schon beenden, als sich Mathern noch einmal das Wort erbat. Alles stehe und falle jetzt damit, was die BMW-Führung in den kommenden wenigen Wochen bis zur neuen Hauptversammlung unternehmen werde. Würde sie diese Zeit genauso ungenutzt verstreichen lassen wie bisher, sei "alles für die Katz gewesen." Deshalb wolle er, Mathern, eine Antwort auf die Frage, ob sich die BMW-Führung um die aufgezeigte Alternative zum Mercedes-Deal bemühen würde. Dr. Feith antwortete: "Herr Mathern, selbstverständlich wird die Verwaltung die nächsten Wochen nutzen.“

Der Großindustrielle Herbert Quandt war bei der neunstündigen HV in München anwesend. Ihn beeindruckte, wie die Händler und Aktionäre für dieses Unternehmen kämpften. Er beschloss, sich mit seinem eigenen Vermögen im großen Stil bei BMW zu engagieren, wenn ihn der Prototyp des Mittelwagens überzeugen sollte. Und er überzeugte ihn voll und ganz.

(Bild: BMW Group)

Damit ging nach über neun Stunden die 39. Aktienhauptversammlung der BMW AG zu Ende. Das um 0 Uhr ablaufende Ultimatum von Daimler-Benz war damit gegenstandslos geworden. Tief beeindruckt hatte ein überaus vermögender Großindustrieller aus Bad Homburg mit engen Kontakten zu Flick die Versammlung verfolgt. Dieser Herbert Quandt hatte den Übernahmeplan sogar mit Flick zusammen entwickelt. Allerdings hatte es ihm widerstrebt, dass Flick anscheinend nicht an einer Weiterführung der Marke BMW interessiert war.

Diese Marke mit überzeugten Händlern und treuen Aktionären war für Quandt auf dieser Versammlung greifbar geworden. Außerdem waren schon in der Automobilpresse vielversprechende Vorberichte über den kommenden Mittelwagen zu lesen gewesen. Ausgewählte Journalisten hatten einen Blick in die Entwicklungsabteilung nehmen dürfen. Wenn ihn der Prototyp selbst überzeugte, wollte Quandt mit seinem eigenen Vermögen diese vielversprechende Firma in eine große Zukunft führen. Der BMW 1500 überzeugte nicht nur Quandt, sondern wurde 1962 zur endgültigen Rettung von BMW. Der Rest ist eine andere Geschichte. (bme)