Verkehrszeichenerkennung und ISA​: Das Ding mit dem Bing​

Die Schildererkennung ist Teil der Intelligent Speed Assistance, die ab Juli in Neuwagen verpflichtend ist. Sie funktioniert unterschiedlich zufriedenstellend.

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(Bild: Christoph M. Schwarzer)

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  • Christoph M. Schwarzer
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Abschalten, bitte: Bei Tesla genügt es, das Tempolimit-Symbol im Display anzutippen. Auch bei Mercedes oder im Renault 5 gibt es einen Universalschalter, um den Warnton bei der Überschreitung der erlaubten Geschwindigkeit zu deaktivieren. Der ist für alle ab dem 7. Juli 2024 erstmals in der EU zugelassenen Pkw verpflichtend. Beim Starten des Fahrzeugs muss das akustische System, das Teil der Intelligent Speed Assistance (ISA) ist, automatisch eingeschaltet sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es ein breites Spektrum gibt: Manchen Herstellern gelingt die Auslegung so gut, dass die ISA ein nützliches Werkzeug ist. Bei anderen dagegen ist das Ausschalten Notwehr gegen die fortgesetzte Belästigung mit Bing- und Pieplauten. Was ist hier los?

Die ISA gehört zu einem Paket von Assistenzsystemen, das für alle seit Juli 2022 typgeprüften – also neu eingeführten oder technisch überarbeiteten – Fahrzeugtypen und jetzt für sämtliche erstmals zugelassenen Pkw in der Europäischen Union eingebaut sein muss. Die meisten werden nicht hinterfragt: Das automatische Notbremssystem etwa wird in der Öffentlichkeit genauso wenig angezweifelt wie der sogenannte Rückfahrassistent, der das Einparken mit Kamera oder Abstandssensoren unterstützt. Der Aufreger ist der Warnton bei der Geschwindigkeitsüberschreitung. Damit keine Missverständnisse entstehen: Tempolimits haben einen Sinn. Innerorts gelten vielfach 50 km/h, in der Spielstraße Schrittgeschwindigkeit, und im Bundesland Bremen darf auf der Autobahn nicht schneller als 120 km/h gefahren werden. Aber darum geht es nicht.

Wenn Autofahrern der Wunsch entsteht, die ISA abzuschalten, hat das im Regelfall zwei Ursachen: Erstens gibt es Hersteller, die mit möglichst unangenehmen und penetranten Tönen die Aufmerksamkeit sicherstellen wollen. Zweitens ist die Verkehrszeichenerkennung in manchen Fahrzeugen disfunktional. Mal wird eine korrekte Geschwindigkeit erkannt, mal wird das Symbol auf der Plane eines Lkw-Aufliegers als Limit identifiziert – ein Fehlalarm.

Ein Negativbeispiel für den ersten Punkt ist leider der in vielen anderen Eigenschaften erstklassige Hyundai Ioniq 6. Der südkoreanische Hersteller hat die Verordnung (EU) 2021/1958 besonders streng ausgelegt. Der Ioniq 6 erzeugt sogar einen kurzen Piepton, wenn die Veränderung (!) einer Geschwindigkeit identifiziert wird, also wenn etwa auf einer Bundesstraße statt 100 km/h bei einer Kreuzung maximal 70 km/h vorgeschrieben sind. Bei Überschreitung der Geschwindigkeit macht der Hyundai einen mehrfachen lauten Bington. Zur Deaktivierung des Systems ist kein Shortcut vorhanden, vielmehr muss in einem Untermenü nach dem Ausschalter gesucht werden.

Noch unangenehmer sind Autos, die falsche Tempolimits identifizieren und entsprechend warnen. Die meisten Pkw benutzen eine Kombination aus dem Kartenmaterial des Navigationssystems plus der kamerabasierten Verkehrszeichenerkennung. Das Kartenmaterial wird in vielen Pkw aber nur alle eineinhalb Jahre aktualisiert. Der Verein EuroNCAP, der bis zu fünf Sterne für die Sicherheit vergibt, lässt dieses Kriterium seit 2023 in die Bewertung einfließen. Es gibt Zusatzpunkte, wenn höchstens drei Monate bis zu einem Update vergehen.

Kamerabasierte Systeme wiederum sind häufig defizitär. Ein Tesla Model Y erkennt zum Beispiel keine Ortsschilder. Solange FSD (Full Self Driving) nach US-amerikanischem Muster in der EU nicht verfügbar ist, könnte das so bleiben. Ein Tiefpunkt in den Praxistests von heise Autos markierte der MG4, der so häufig falsche Geschwindigkeiten identifiziert, dass das Abschalten zwingend ist. Auch im Opel Corsa-e meines Kollegen Martin ist die Erkennung von Verkehrsschildern derart schlecht, dass er sie als absolut nutzlos ansieht.

Dass es auch ganz anders geht, zeigt unter anderem der BMW iX2. Mit einer Ausnahme – bei tiefstehender Sonne wurde das Zeichen einer variablen Verkehrszeichenbrücke über der Autobahn nicht korrekt gelesen – hatte ein Testwagen die Schilder richtig erkannt. Im Ergebnis war es auch ziemlich angenehm, die automatische Übernahme in den adaptiven Tempomaten zuzulassen. Ein Warnton muss außerdem nicht per Gesetz besonders quälend gestaltet sein. Der genannte BMW oder zuletzt ein VW ID.4 machen akustisch klar, wenn man zu schnell fährt, ohne dass der Fahrer sofort ein stechendes Gefühl im Ohr hat. Das ist die Beschreibung des neuen Ist-Zustands. Wie aber geht es weiter?

Auf Anfrage von heise macht die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) deutlich, dass Assistenzsysteme bis inklusive Level 2 immer vom Menschen überstimmt werden können. Das bleibt so. Eine Veränderung ergibt sich mit der Verbreitung von automatisierten Pkw nach Level 3 sowie autonomen Fahrzeugen nach Level 4 und 5. Die Unterschiede sind oftmals nicht klar, daher seien sie hier in aller Kürze nochmals umrissen. Diese Autos können in Bereichen – zuerst auf der Autobahn – und unter exakt definierten Bedingungen selbstständig fahren. Der Fahrer muss allerdings innerhalb einer sehr kurzen Spanne eingreifen können, wenn der Rechner überfordert ist. Während das Auto autonom fährt, ist er nicht mehr verantwortlich. Level 3 wird sich mittelfristig stark verbreiten.

Im MG4 war die Erkennung von Verkehrsschildern viel zu fehleranfällig.

(Bild: Christoph M. Schwarzer)

Mit dem Level 4 ändert sich eines: In einem genau definierten Szenario ist das System in der Lage, alle Situationen allein zu bewältigen. Erst Level 5 bedeutet, dass ein Auto unter allen Umständen und Bedingungen überall selbstständig fahren kann. Technisch liegen zwischen diesen Stufen ein enormer Regelaufwand, denn die Hersteller, die im Zweifelsfall in der Haftung sind, werden die Bedingungen beispielsweise für ein Level-4-Modell klar und eng definieren.

Selbstverständlich muss für das aktivierte Level 3 sowie bei Level 4 und 5 jedes Tempolimit korrekt eingehalten werden. Bis dahin hat die Autoindustrie eine Aufgabe. Die Käufer von Pkw mit defizitären Geschwindigkeitsassistenten beschweren sich längst bei den jeweiligen Herstellern. Eine Verbesserung für Bestandsfahrzeuge ist aber kaum zu erwarten, weil dafür wahrscheinlich die Typprüfung erneuert werden müsste. Das geschieht meistens erst zur Hälfte der Laufzeit eines bestimmten Autos und dann auch nur für die Neuwagen. Für betroffene Halter bleibt also nur die Abschaltung als Sofort- und Dauermaßnahme.

(mfz)