Klartext: Wie ich wieder Zeit zum Motorradfahren fand, oder: Digitale Freiheit

Seite 2: Ein Antidot

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Deshalb ist es auch so absurd, wenn die Motorradhersteller immer behaupten, dass Motorräder besonders vernetzt sein müssten. Ja, ganz schön, dass es eine App für Navigation auf dem Tacho gibt (z. B. BMW oder KTM). Aber dass jeder Tacho eine Bluetooth-Einheit hat, damit man damit telefonieren kann, das halte ich für ein Artefakt aus billigen Bluetooth-Chips: "Siehe!", ruft der Zulieferer dem Hersteller zu, "was du hier für ein Feature anbieten kannst, kosta quasi gar nichts!" Und richtig "connected" wäre es ja erst, wenn wie im Auto die Benachrichtigungen reinbimmeln. Bing! Jemand hat einen 50 Jahre alten Witz in die Whatsapp-Elterngruppe flatuliert! Dafür übersehe ich doch gern den abbiegenden Querverkehr!

Nein, das Motorradfahren ist für die wenigen Jungen, die zu ihm finden, nicht wegen Firlefanz interessant, den sie seit zehn Jahren in jeder anderen Branche besser haben können. Stattdessen ist das Motorrad interessant, weil es eine herbe Physik- und Motorikerfahrung bietet, die TikTok eben nicht bieten kann. Es kann sie maximal zeigen. Ich kann dir auch ein paar nackte Menschen zeigen, mit Edding auf einem Bierdeckel oder mit Youporn auf einem Jeejah. Davon weißt du noch nicht, wie sich sowas anfühlt.

Aktueller Plan: Eine KTM Freeride E suchen, damit ich mit den anderen alten Herren die Sonntags-Endurorunden rund um den Ort fahren kann. Alternative: auf der Couch einsumpfen und das Silicon Valley reicher klicken.

(Bild: KTM)

Der Mensch braucht andere Menschen fürs Wohlbefinden. Tausend Dosen Menschlichkeit light können leider doch nicht echten, innigen Kontakt mit einigen wenigen Anderen ersetzen, vermutet die Forschung mittlerweile. Es ist nur auf den ersten Klick bequemer. Die Ausfahrt mit dem Kumpel, die du seit Monaten vertagst, sticht in jedem Fall die 1000 Facebook-Pseudofreunde. Probier es aus: Poste 30 Tage nichts, schau, wer dich vermisst. Es wird nicht einmal jemand bemerken. Der Algorithmus ersetzt dich sofort nahtlos.

Ruf lieber diesen Kumpel an. Der Mensch braucht jedoch auch Episoden, in denen kein anderes Gehirn Input gibt. Wir brauchen Zeit für eigene Gedanken. Wir brauchen physische Erlebnisse, denn der Mensch denkt auch mit der Hand. Wir denken alle gerade, wie gut die letzten Sätze zum Motorrad passen.

Ich habe alle meine Artikel auf dem Motorrad, im Auto, beim draußen herumstreifen oder alleine auf dem Balkon erdacht. Die Schreibtätigkeit ist lediglich eine des Aufschreibens. Das Smartphone ist eine Maschine, die dabei sehr effizient jeden eigenen, einsamen, wachen Gedanken verhindert. Du musst nichts mehr ohne Ablenkung tun: Podcast im Fitnessstudio, Spotify beim Fahrradfahren, Twitter in der U-Bahn. Du KANNST aber auch nichts mehr ohne Ablenkung tun, weil du a) süchtig bist und b) das Smartphone deine Dosis automatisch optimiert.

Das Motorrad dagegen ist eine Maschine, die dich sehr effizient auf deine eigene Gedankenwelt zentriert. Bremse, Einlenkpunkt, Stützgas, umlegen in die Wechselkurve, Ölspur, Korrektur, Beschleunigung und plötzlich die kalte Waldluft im Helm – herrlich! Wer in der Gruppe fährt, erlebt sogar das Wechselbad zusammen-alleine in Tank-getakteten Etappen, was ich ohne weitere Forschung einmal recht ideal nennen will, bis jemand etwas anderes belegt. Sonst wäre das Rudelfahren nicht so beliebt.

Als ich diesen Sommer für mein Motorradfahren Zeit suchte, fand ich immer genug von den asozialen Medien abzuknapsen. Das zeigt schon deutlich, dass mein eigenes Verhalten wider besseres Wissen aus dem Silicon Valley fremdbestimmt wird. Ich rede mir ein, ich bräuchte dringend dreimal am Tag Facebook für meinen Job.

Ich muss doch erreichbar sein für die 50 Jahre alten Witze! Minimalist Cal Newport schlägt zur Einordnung vor: Man stelle sich vor, egal welcher Dienst berechnet dir Geld pro Minute Nutzung. Wie viel Facebook brauche ich dann noch? Plötzlich komme ich mit fünfzehn Minuten pro Woche dicke aus. Ebenso plötzlich habe ich viel Zeit, um auf der Duke das Hohenlohische Land zu erkunden.

Ich war immer pro Technik. Elektronik oder Fahrhilfen fand ich nie per se schlecht, ich hob nur mahnend den Finger ob der Komplexitätssteigerung, die immer zu einer analog dazu verlaufenden Fehlerinzidenzsteigerung führt. Meine Sympathie erstreckt sich jedoch nicht auf Techniken, die aktiv dazu entwickelt wurden, uns zum dämlichen Guck-und-Klick-Affen umzuschulen, damit die reichsten Psychopathen des Planeten pro User pro Tag ein paar Pennies daran verdienen.

Ich hatte noch nie was für Cruiser übrig. Aber eins ist mal sicher: So einen Klumpen fahren macht am Ende des Tages glücklicher, als sich in der Zeit von Twitter im Strahl von Snark und Wichtigtuerei ankotzen zu lassen.

(Bild: BMW)

Als Peter Fonda in Easy Rider seine Armbanduhr wegschmiss, resonierte das mit den Zuschauern, die darin eine bewusste Abkehr von der Leistungsgesellschaft der damaligen Zeit sahen. Das viel wichtigere Äquivalent heute: Schmeiß das Smartphone weg. Das würden natürlich nur Wenige tun.

Deshalb empfehle ich meine Variante als wohlstandsverwahrloster Technoabhängiger: Lass das Ding daheim. Ich verspreche dir, du verpasst unterwegs gar nichts ohne. Und wenn du nicht ohne Telefon fahren willst: Schalte alle Benachrichtigungen ab, für immer. Langfristiger Tipp: Einfache nur-telefonier-Telefone boomen wieder am Markt und kosten wenig. Wir sehen uns im Hohenlohischen.

(cgl)