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Was war. Was wird.

Heuristisch Albernes Labern im Web 2.0, genau, das ist es, hat Hal Faber erkannt. Patentrechtlich abgesichert, kann dann auch die Große Koalition und der Untergang des Pop keine Novemberdepression mehr auslösen – von wegen heimlich Wein trinken.

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Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Hiermit reiche ich meine Methode, mitten in der Nacht so geistreich über IT-Probleme, anverwandte und ganz abwegige Angelegenheiten zu plaudern, dass die eine Hälfte der Leser "was soll das" stöhnt, zum Patent ein. Der besondere Vorteil der Methode ist, dass sie den Blick für Details so stark schärft, dass schwer verletzte Unterdetails, vulgo Informationshäppchen, der anderen Hälfte meiner Leser im Hals stecken bleiben. Damit ist meine Methode bestens geeignet, die Besuche beim Wochenendangebot von heise online soweit zu schärfen und zu würzen, dass die letzten Leser immer wieder und wieder auf das WWWW klicken und in der Hoffnung, dass der Spuk ein Ende hat, willig weitere Tickernachrichten abrufen. So wird der Spielraum für Werbung im Internet geschaffen, den Google wegpatentieren möchte. Meine großartige Methode lässt es sogar zu, dass Leser "Was soll der Unsinn" oder "Erster!" schreiben dürfen, ohne dass dafür Patentgebühren fällig sind.

*** Zu betonen ist außerdem, dass meine Methode garantiert ohne Plot auskommt und damit jenseits aller Patentansprüche auf alle Geschichten seit Homers Iliade angesiedelt ist. Es gibt hier wirklich keinen Plot: WWWW trödelt ziellos von Höckchen zum Stöckchen und wieder zurück. Keine Absicht weit und breit, dem Leser etwas Sinn zu schenken, keinen teuflischen Plan, weder hier noch in den Memos von Bill Gates. Das unterscheidet meine Methode von der Microsoft-Methode: Diese Firma in Seattle ist einfach ratlos, diese meine Methode hingegen plotlos.

*** Meine Methode soll unter dem markenstarken Akronym "HAL 2.0" – Heuristisch Albernes Labern im Web 2.0 – eingetragen werden. Dies ist als Verbeugung vor der großen IBM gedacht, die mit dem PIMSEN, der Public Internet Monitoring Solution for Enterprise Networks dem Labern eine Heimat gibt. Ein wichtiges Kennzeichen meiner Methode sind Links. Sie verhindern zuverlässig, dass die Wochenschau LAUT vorgelesen werden kann "Ah, haref! Heise target ..." und mindern somit die immer vorhandene Verwechslungsgefahr mit einer kostenpflichtigen Sportreportage: "Toor für Linux! Microsoft fault schon wieder!!"

*** Damit wird auch die Tragweite meines Patentantrages deutlich: Die Mischung von Links, Kommentaren und der allfällige Ausblick in die wöchentliche Zukunft weisen eine dermaßen enorme Innovationshöhe auf, dass sie die Schwerkraft ignorieren. Das hat zuletzt in dieser Branche nur Apples Newton geschafft und das ist lange her. Heute sind Apples Patente so platt, dass sie bequem unter einer Tür durchgeschoben werden können und zurückgezogen werden müssen.

*** Hal 2.0 ist natürlich kein richtiger Journalismus, genausowenig wie Spiegel Online ein Blog ist oder gar Journalismus. Hier wird kein Skandal aufgedeckt, keine knochenharte investigative Recherche betrieben, wie Tag für Tag auf heise online. Gerade darum kann es sich die kleine Wochenschau leisten, an die Heldentaten im Journalismus zu erinnern, etwa an den 12. November 1969, als der Journalist Seymour Hersh seine Recherche über ein Massaker in Vietnam dem kleinen unbekannten Dispath News Service für 30 Dollar verkaufte, nachdem alle großen Zeitungen abgelehnt hatten, die Wahrheit über My Lai zu drucken. Der News Service verkaufte die Geschichte für 100 Dollar an 36 Zeitungen und Hersh bekam seinen Pulitzer-Preis. Für die Folge-Geschichte, dass der für das Massaker verantwortliche Leutnant Calley (Urteil: lebenslänglich) nur drei Tage hinter Gittern sitzen musste, interessierte sich niemand mehr. Bleiben wir beim Journalismus und der seltsamen Praxis, dass der deutsche Auslandsdienst BND im Inland unkontrolliert Journalisten ausspähte: Man nennt es "Grauzone", wenn sich die Grenzen verwischen. Dagegen ist die Grauzone, in der die INSM die Medien einschüchtert, nachgerade ein idyllischer Schmollwinkel.

*** Wie schwierig das mit den Grenzen ist, zeigte der oberste Geheimdienstbetreuer Otto Schily, als er den ersten ePass aushändigte, der zum mehrmaligen Wiedereintritt in das deutsche Staatsgebiet berechtigt: "Wer nach Europa kommt, soll nicht seine Identität verschleiern können." Bis zum Haaransatz müssen die Maße stimmen. Die Moral von der Geschichte formuliert dazu das poetische Helpdesk.

*** Die 19%ige Große Koalition geht mit zweijähriger Probezeit daran, die Chancen für Innovationen zu entsorgen. 4,5 Millionen PDS-Wähler wissen schon, wie innovativ die (Ab)Stimmung ist. Aber man muss sich angesichts solch in neu entdeckter Lagerverbrüderung verschwurbeltem Hindernislauf nicht gleich mit dem bedröppelt im Bundestag sitzenden Lothar Bisky verbrüdern, um einen hoffentlich noch nicht ganz vergessenen Dichter einen Kommentar zum Start der Großen Kolition ins Stammbuch schreiben zu lassen:

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk den großen Lümmel.

Ich kenn die Weise, ich kenne den Text
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

*** Das wusste anscheinend schon Heine, dass es keine Heuschrecken braucht, das machen die Herren inländische Konzernchefs mitsamt den Damen und Herren Großkoalitionäre schon selbst, dass ihnen das Volk kein Wort mehr glaubt. Massenentlassungen mit Milliardengewinnen zu begründen und gleichzeitig als Druckmittel zur Genehmigung neuer Monopole zu nutzen, diese Chuzpe hätte man deutschen Managern eigentlich gar nicht mehr zugetraut, schon gar nicht denen des Kolosses Telekom. Dagegen scheint eine Firma wie Sony BMG mit ihren Kopierschutzmachenschaften gerade wegen ihrer abgrundtiefen Dummheit als Waisenknäblein. Beide aber, Sony BMG wie Telekom, demonstrieren eines, dass man nicht oft genug eine der allgemein bekannteren Fußnoten in Marxens Kapital in Erinnerung rufen kann. "Kapital flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens." Oder, um noch einmal Heine zu Wort kommen zu lassen:

Die Mageren sind noch dünner jetzt,
Noch fetter sind die Feisten,
Die Kinder sind alt, die Alten sind
Kindisch geworden, die meisten.

Gar manche, die ich als Kälber verließ,
Fand ich als Ochsen wieder.

So stehen die Kälber, die ihre Schlächter selber wählen, dann wohl als Ochs vor dem Berg an Steuererhöhungen, 2-Jahres-Probezeit, zweifelhafter Technologie-Wirtschaftsförderung und ökonomischer Rasterfahndung.

*** Aber was schwelgen wir in Wehmut, wo doch alles Gut wird. Nicht nur wird mir das Hal-2.0-Patent unendlichen Reichtum bescheren, auch kann einfach keine schlechte Laune mehr aufkommen, wenn die Rückkehr des Pop sich im Album einer Sängerin manifestiert, die in Klamotten von Aerobic-Lehrerinnen aus den frühen 80er Jahren herumhupfdohlt. Ja, alles wird gut, jeder ist seines Glückes Schmied, und du bist selbst schuld, wenn's dir dreckig geht. Also reiß dich zusammen, denn Du bist Deutschland. Und wenn du die Musik schlecht findest: Pech gehabt, denn wenn nicht einmal mehr Geburtstagskind Neil Young mit seiner Wiederentdeckung der hehren Country-Musik noch zur Wiederbelebung des Geistes beitragen kann, scheint das Ende nah. Wo ist er geblieben, der Rock'n'Roll, der niemals sterben wird? Da haben es die Love-Hounds des Gaffa-Web schon einfacher, denn Aerial fängt da an, wo Hounds of Love aufgehört hat. Soweit ist es schon, dass ich Kate Bush gegen Neil Young und Madonna ins Feld führe, ja. Aber was bleibt mir übrig, wenn Pop mittlerweile als Argument fürs FDP-Wählen herhalten muss. Dann lieber mit Kate Bush schwelgen und mit Charlie Haden's Liberation Music Orchestra widerständeln.

Was wird.

Zu den großen Innovationen, die Kanzlerin Merkel feierlich einweihen kann, zählt die elektronische Gesundheitskarte. Wenn in Düsseldorf die Medica ihre Pforten öffnet, steht die Wunderkarte wieder einmal im Zentrum des Interesses. Während die Trustcenter als Zertifikatsdiensteanbieter über den technischen Spezifikationen für den Heilberufsausweis brüten, weil sie zur Kommentierung verpflichtet werden, ist die Messe natürlich viel weiter. Das ist mit der LinuxWorld nicht viel anders, nur wird das OpenDocument-Format und keine kleine Karte gefeiert. Noch besser geht es auf dem kommenden Cyber-Weltgipfel zu, der eine heile Welt 2.0 voll freundlicher Cyberschwestern und Cyberbrüdern feiern will.

So freuen wir uns nicht nur über die medizinische Rundumversorgung mit einer schicken Gesundheitskarte, die ab 2006 unsere Portemonnaies verdelt, sondern gehen mit noch größerer Vorfreude in die närrische Zeit, die uns das Informatikjahr 2006 beschert. Immer auf dem Laufenden dank heise online? Weit gefehlt. Wobei sich natürlich die Frage stellt, warum denn niemand das Laufende patentiert hat oder wenigstens den aufrechten Gang, mit dem wir uns in die nächste Woche schleppen. Ja, heute vor 65 Jahren, als Stereoklang noch Fantasound hieß, da wusste man noch fantastisch die Bilder zum Laufen zu bringen.

Ja, wir sind auch in großkoalitionären Zeiten verdammt, was wird ahnungslos zu ertragen, wenn wir uns nicht erinnern, was war. Daher sollte der 9. November, der eigentliche deutsche Gedenktag, der vergangene Woche war, das Menetekel sein, dass uns alle daran erinnert, was werden könnte, wenn wir uns nicht erinnern. Wie es auch sei, es wird nun doch Herbst, man darf sich endlich der Novemberdepression hingeben, dieses Mal unter dem Motto "Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit":

Fatal ist mir das Lumpenpack,
Das, um die Herzen zu rühren,
Den Patriotismus trägt zur Schau
Mit allen seinen Geschwüren.
Schamlose Bettler sind's.
Almosen wollen sie haben –
"Ein'n Pfennig Popularität ..."

So kommt es möglicherweise doch, ganz ohne all diese Dus, die Deutschland sein wollen:

Ein Spätherbstmorgern, feucht und grau,
Im Schlamme keuchte der Wagen;
Doch trotz des schlechten Wetters und Wegs
Durchströmte mich süßes Behagen.
Das ist ja meine Heimatluft!
Und dieser Landstraßenkot, es ist
Der Dreck meines Vaterlandes!

Und die Freiheit hat sich den Fuß verrenkt,
Kann nicht mehr springen und stürmen.

(Hal Faber) / (jk)