Erdbeben in Japan: Fortschritte und Rückschläge im Kampf gegen die Nuklearkatastrophe [1. Update]

Die Zahl der Toten und Vermissten in Japan stieg mittlerweile auf über 26.000. Die Arbeiten im AKW Fukushima erleiden immer wieder Rückschläge; die Kühlsysteme funktionieren noch nicht. Es wird erhöhte Radioaktivität auch in Gemüse und Wasser gemessen.

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Von
  • Jürgen Kuri

Immer wieder müssen die Mannschaften, die im außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi immer noch dagegen anarbeiten, dass sich die Notfälle im AKW zu einer nuklearen Katastrophe ausweiten, Rückschläge hinnehmen. Gegen 16 Uhr japanischer Zeit (8 Uhr mitteleuropäischer Zeit) am Mittwoch (23. März) berichtete der Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power von schwarzem Rauch über dem schwer in Mitleidenschaft gezogenen Reaktor 3. Daraufhin wurden die Hilfskräfte von dem Reaktor abgezogen, die Ursache des Rauchs war vorerst unklar. Gegen 17:30 japanischer Zeit (9:30 mitteleuropäischer Zeit nahmen die Rauchwolken über dem Reaktor ab, eine Zunahme der Radioaktivität soll es nicht gegeben haben. Zuvor hatte es geheißen, am Mittwoch solle ein erster Versuch unternommen werden, die Pumpen des normalen Kühlsystems für Reaktor 3 und die dort befindlichen Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente wieder in Betrieb zu nehmen, nachdem die Stromversorgung des Kontrollraums für Reaktor 3 wieder etabliert werden konnte. Derweil wird mit Wasserwerfern, Löschfahrzeugen und Pumpwagen, die normalerweise für Betonbauarbeiten eingesetzt werden, Wasser auf Reaktor 3 gesprüht; außerdem wird so versucht, das Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente bei Reaktor 4 ausreichend gefüllt zu halten; kurzfristig mussten aber auch die Arbeiten an Reaktor 2 eingestellt werden, da erhöhte Radioaktivität gemessen wurde.

Im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi waren zum Zeitpunkt des verheerenden Erdbebens und des anschließenden Tsunamis am 11.3. insgesamt 3 von 6 Reaktoren (Reaktor 1, 2 und 3) in Betrieb, Reaktor 4, 5 und 6 waren für reguläre Wartungsarbeiten heruntergefahren. Durch das Erdbeben der Stärke 9 und die Flutwelle sowie Explosionen wurden die Reaktoren schwer in Mitleidenschaft gezogen, teilweise die Brennstäbe im Reaktorkern beschädigt; die normale Kühlsysteme sind wegen fehlender Stromversorgung ausgefallen. Die Vorfälle im AKW Fukushima Daiichi werden von der japanischen Atomaufsichtsbehörde nach der International Nuclear Events Scale (INES) für die Reaktoren 1,2 und 3 auf Stufe 5 (accident with wider consequences) eingeordnet. Der Verlust der Kühlung für die Abklingbecken im Reaktor 4 wird als Vorfall der Stufe 3 (serious incident) angesehen. Andere Aufsichtsbehörden stufen nach den vorliegenden Informationen die Schwere des Unfalls in Fukushima Daiichi allerdings höher ein: Bereits am 15. März hatte die französische Nuklearaufsichtsbehörde erklärt, sie stufe die Vorfälle in Fukushima Daiichi auf INES unter 6 (serious accident) ein. Der Atomunfall in Tschernobyl war auf der höchsten Stufe 7 eingeordnet worden, der Unfall in Harrisburg (Three Mile Island) auf Stufe 5.

Die Gefahr einer noch größeren nuklearen Katastrophe mit massiver Verseuchung der Umgebung ist derzeit immer noch nicht gebannt; die Arbeiten an der Wiederherstellung der Stromversorgung und der Wiederinbetriebnahme der Kühlsysteme gehen weiter. Mittlerweile erklärte Tokyo Electric Power, die vollständige Wiederherstellung der Stromversorgung für alle Reaktoren und ihre Steuerungs- und Kühlsysteme könnte Wochen, wenn nicht gar Monate dauern; es gebe auch immer wieder Rückschläge wegen erhöhter Radioaktivität und austretendem Dampf oder Rauch. Gegenwärtig (um 16:00 japanischer Zeit, 8:00 mitteleuropäischer Zeit) stuft das japanische Atomforum die Lage im Atomkraftwerk weiter als sehr kritisch ein. Die Reaktorkerne beziehungsweise Brennstäbe in den Reaktoren 1, 2 und 3 sind beschädigt, die Gebäude der Reaktoren 1 und 3 schwer beschädigt. Die Brennstäbe sind ganz oder teilweise nicht mit Wasser bedeckt. Die Situation bei den Abklingbecken der Reaktoren 3 und 4 ist weiter kritisch, das Kühlwasserniveau trotz der Bemühungen von Feuerwehren und Militär weiter niedriger als eigentlich erforderlich. Die Reaktoren 5 und 6 sind seit einiger Zeit in einem sicheren Zustand. Die Kontrollräume für die Reaktoren 1, 2, 3 und 4 sind trotz der Arbeiten zur Wiederherstellung der Stromversorgung noch nicht wieder funktionstüchtig, im Kontrollraum von Reaktor 4 funktioniert aber wenigstens die Beleuchtung schon mal. Die Temperatursensoren in den Reaktoren 1, 2 und 3 sollen laut der japanischen Automaufsichtsbehörde NISA wieder arbeiten; dadurch sei festgestellt worden, dass die Temperaturen der Reaktordruckbehälter oberhalb der von den Konstrukteuren vorgesehenen Maximalwerte liegen. Eine konkrete Gefahr des Durchschmelzens bestehe aber nicht; die Einleitung von Meerwasser wurde erhöht, um die Druckbehälter weiter herunterzukühlen. Solange die Kontrollräume nicht benutzbar sind, kann auch kein Versuch unternommen werden, die normalen Kühlsysteme wieder anzufahren – ob diese überhaupt funktionieren, ist angesichts der massiven Beschädigungen an den Reaktorgebäuden und teilweise an den Containments aber noch nicht klar. Nach Informationen der UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA sind die Kühlsysteme der Reaktoren 1, 2, 3 und 4 stark in Mitleidenschaft gezogen, sodass unklar ist, welche Reparaturarbeiten zu ihrer Inbetriebnahme noch notwendig sind.

In Tokio wurde im Leitungswasser mittlerweile eine Konzentration des radioaktiven Isotops von Jod entdeckt, die oberhalb des Grenzwerts liegt, der für Kinder noch als unbedenklich gilt. In einem Klärwerk in Nord-Tokio wurden am Dientag 210 Becquerel an Jod-131 in einem Liter Wasser gemessen. Am Mittwoch lag der Wert bei 190 Becquerel pro Liter. Die Grenzwerte liegen bei 300 Becquerel pro Liter für Erwachsene und bei 100 Becquerel pro Liter für Kinder. Die Tokioter Stadtregierung erklärte, Kinder sollten in den 23 Tokioter Stadtteilen und den umliegenden fünf Städten kein Leitungswasser trinken. Japans Premier Naoto Kan warnte die Verbraucher am Mittwoch erneut davor, Blattgemüse aus der Präfektur Fukushima zu essen, nachdem die gemessene Radioaktivität im Gemüse weiter angestiegen ist. Zudem wurde schon am Dienstag radioaktive Belastung des Meerwassers in der Nähe des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi entdeckt: Im Meer bei den Ablusskanälen der Reaktoren 1, 2, 3 und 4 wurden radioaktive Isotope von Kobalt, Jod und Cäsium festgestellt. In vielen Gebieten in Ost- und Nordjapan bleibt die gemessene Readioaktivität über dem normalen Level. So wurden etwa 65 Kilometer nordwestlich von Fukushima Daiichi 6,09 MikroSievert pro Stunde gemessen. 160 km nordwestlich betrug der Wert noch 1,3 MikroSievert pro Stunde. Südlich von Fukushima Daiichi lag der Wert zwischen 0,33 und 1,45 MikroSievert pro Stunde. Die UN-Atomaufsichtsbehorde IAEA hält eine radioaktive Dosis durch die natürliche Umweltstrahlung von 0,2 bis 0,3 MikroSievert pro Stunde (2,4 MilliSievert pro Jahr) für normal, in Deutschland liegt die natürliche Umweltstrahlung bei bis zu 0,2 MikroSievert pro Stunde (1,7 MilliSievert pro Jahr).

Die Auswirkungen von Erdbeben und Flutwelle in den betroffenen Gebieten sind auch ohne die Gefahr radioaktiver Verseuchung katastrophal. In Folge des Erdbebens der Stärke 9 am 11.3. und des darauf folgenden Tsunamis stieg die Zahl der Toten und Vermissten mittlerweile auf über 24.000, die Zahl der Toten liegt nach den Zahlen der Behörden derzeit bei 9.400, die Zahl der Vermissten bei 14.700. Rund 500.000 Menschen sind obdachlos, rund 300.000 sind in tempären Notunterkünften untergebracht. Sie leiden neben der mangelnden Versorgung mit Hilfsgütern, deren Anlieferung aufgrund der Schuttberge und der zerstörten Infrastruktur extrem schwierig ist, unter den Wetterbedingungen: Regen, Schnee und teilweise Temperaturen in der Nacht unter dem Gefrierpunkt setzen den Betroffenen weiter zu. Außerdem besteht ständig die Gefahr von (starken) Nachbeben.

[1. Update (24.3., 9:30): Am Donnerstag wurden Überlegungen der japanischen Regierung bekannt, die Evakuierungszone rund um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi auf 30 km auszudehnen – bislang war ein Gebiet im Umkreis von 20 km evakuiert worden. Der japanischer Regierungssprecher Yukio Edano erklärte zudem, die vom außer Kontrolle geratenen AKW freigesetzte Radioaktivität könne eine Gefährdung für Menschen auch außerhalb der 30-km-Zone darstellen. Das japanische Wissenschaftsministerium lässt mittlerweile im Umfeld des Kraftwerks ständig die Radioaktivität in der Luft, im Erdboden und im Seewasser prüfen, um das Ausmaß der radioaktiven Kontamination durch die Unfälle in dem AKW festzustellen und die Auswirkungen auf Landwirtschaft sowie Fischerei einschätzen zu können. Am Eingang des Kraftwerks wurden Donnerstagmorgen (japanischer Zeit) rund 200 MikroSievert pro Stunde gemessen; normal sind durch natürliche Umweltstrahlung 0,2 bis 0,3 MikroSievert pro Stunde. Nach Angaben des Kraftwerksbetreibers Tokyo Electric Power wurden seit der Erdbebenkatastrophe und den Unfällen im AKW mehrmals Neutronenstrahlung festgestellt, was möglicherweise auf die Freisetzung von Plutonium- und Uran-Partikeln aus den Reaktoren hindeuten könne.

Japanische Offizielle bestätigten radioaktive Belastung von Gemüse, Rohmilch und Leitungswasser in der Umgebung des Kraftwerks und in Regionen in Ostjapan. Australien, Singapur, Hongkong, Kanada sowie die Philippinen und die USA haben mittlerweile den Import von Lebensmitteln aus möglicherweise von radioaktiver Kontamination belasteteten Regionen Japans verboten oder eingeschränkt. Andere Länder prüfen derzeit ähnliche Maßnahmen.

Im Kraftwerk selbst gehen die Arbeiten an der Wiederherstellung der Kontrollraum-Funktionen und der regulären Kühlung weiter, in den Kontrollräumen der Reaktoren 1 und 3 konnte wie in Reaktor 4 zumindest schon die Beleuchtung wieder in Betrieb genommen werden. Zuvor war es zu Unterbrechungen wegen aufsteigenden schwarzen Rauchs über Reaktor 3 und Dampfwolken über den Reaktoren 1, 2, 3 und 4 gekommen. Während der Arbeiten an den Turbinen von Reaktor 3 waren zwei Arbeiter so hohen Strahlendosen ausgesetzt, dass sie ins Krankenhaus zur Behandlung gebracht wurden. Die Dosen summierten sich auf 170 bis 180 MilliSievert. Am Mittwoch stieg die Temperatur des Reaktordruckbehälters in Reaktor 1 auf über 400°C (ausgelegt ist der Druckbehälter laut dem japanischen Fernsehsender NHK) auf Temperaturen bis 302°C), deshalb leitete der Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power mehr Meerwasser zur Kühlung ein – mit dem Nebeneffekt, dass der Druck im Containment stark anstieg. Mittlerweile erscheint die Lage am Reaktor 1 wieder so stabil, wie sie nach Erdbeben, Flutwelle, teilweiser Zerstörung des Reaktorgebäudes, Beschädigung am Reaktorkern und Ausfall der Kühlsyseme nur sein kann: Druck im Containment und Temperatur des Reaktordruckbehälters sollen auf sichere Werte gefallen sein. Die Kühlung mit Meerwasser der Reaktoren und die Bemühungen, vor allem an Reaktor 4 das Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente mit Wasser aufzufüllen, wurden fortgesetzt. Die japanische Nuklearaufsichtsbehörde NISA hat eine grafische Übersicht zur Situation an den Reaktoren 1 bis 6 in Fukushima Daiichi veröffentlicht, die den Status am 24.3. 5:00 japanischer Zeit (23.3. 21 Uhr mitteleuropäischer Zeit) illustriert. Die Arbeiten im AKW haben bislang jedenfalls noch nicht dazu geführt, dass die Gefahr einer größeren nuklearen Katastrophe gebannt ist; ob die Reaktoren 1 bis 3 und die Abklingbecken dauerhaft in einen halbwegs sicheren Zustand überführt werden können, ist noch keineswegs sicher.

Die Opferzahlen des verheerenden Erdbebens und der anschließenden Flutwelle steigen weiter an. Mittlerweile geben die japanischen Behörden die Zahl der Toten und Vermissten mit über 26.000 an. 9.737 Tote wurden gezählt, 16.501 Menschen gelten noch als vermisst. Die meisten Toten und Vermissten gibt es in den japanischen Präfekturen Miyagi, Iwate und Fukushima. In Fukushima wird die Suche nach Vermissten und die Identifikation der Toten aber durch die Notfälle im AKW und die Evakuierung der 20-km-Zone erschwert, hier dürften die Opferzahlen – unabhängig von weiteren Vorfällen im Kraftwerk – noch stark steigen. Die Polizei bezifferte die Zahl der vollständig zerstörten Häuser in den betroffenen Gebieten bislang auf 18.000, über 130.000 seien beschädigt.]

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(jk)