Royal Enfield Shotgun 650 im Test: Eine Frage der Haltung
Die Idee eines puren Motorrads im Manufactum-Stil bekommt bei der Shotgun noch einen leichten Customizing-Touch. Das passt unter "Retro" ganz gut zusammen.
Ein erster Rundgang um die neue Enfield wird zur Musterung aller Teile, die wohl jeder andere Hersteller aus Plastik gemacht hätte – schon wegen der Kosten und des Gewichts. Tatsächlich, sogar die nostalgische Lampenmaske besteht aus Stahl. Da leistet sich ein Hersteller mal etwas Besonderes. Warum er das tut, dürfte sich mit dem Blick auf das Konzept der Shotgun erschließen: Kunden ansprechen, welche die Ausstrahlung eines nostalgischen mit der Unkompliziertheit eines modernen Bikes schätzen – und zwar in der beliebten Einsteigerklasse bis 35 kW.
Die Glaubwürdigkeit ist maximal, denn Royal Enfield ist der älteste noch produzierende Motorradhersteller und baut seit 1933 seine Bullet, seit den 50ern in Indien. Das moderne Modellprogramm orientiert sich schon seit Jahren sehr gekonnt an der anhaltenden Retrowelle. Bei der Shotgun mischte Enfield mit dem kurzen, breiten Fender ein Stilelement aus dem Bobber mit hinein, ohne wirklich einen zu bauen. Formal erinnert mich die neue 650er an ein Fettsteißschaf. Dass ihr Konzept naturgemäß auch recht klar umrissene Grenzen hat, zeigt der Test.
Infotainment: vorhanden
Korrosion und Verschleiß sollte gut vorgebeugt sein, die Verarbeitung wirkt kompetent. Ein 50.000-km-Test der Zeitschrift Motorrad mit Wintereinsatz war bei der gleich motorisierten, früher auf den Markt gekommenen Royal Enfield Interceptor makellos verlaufen. Die Shotgun ist seit Frühjahr 2024 erhältlich. Ihre Schalter fühlen sich solide wie die Blechteile an, die Kabel sind sauber aufgeräumt. Die nur zum Laden geeignete USB-Steckdose befindet sich allerdings fernab unter dem nur per Zündschlüssel zu öffnenden, rechten Seitendeckel. Am Lenker ermöglicht ein kleines Nebendisplay eine Pfeilnavigation, wenn man es drahtlos mit einem Smartphone verbindet. Weiteres Infotainment sucht man vergebens. Als Assistenz gibt es lediglich das Pflicht-ABS, fertig.
Royal Enfield Shotgun 650 I (8 Bilder)
Florian Pillau
)Leider fehlte der Vorführmaschine der mit dem Gepäckträger demontierbare Beifahrersitz und damit ein intelligentes Detail. Sicher steht der Enfield diese Idee "inspired by custom", wie es in der Eigenwerbung heißt, gut – ausprobieren konnte ich das praktisch gedachte Modularitätsangebot aber nicht.
Die Enfield ist superbequem. Mit weitem Kniewinkel sitze ich normalgroßer Mitteleuropäer ziemlich aufrecht und weit vorn, trotz Einzelsattel bleibt ausreichend Platz für Schwerpunktverlagerung. Dass dem Tank Einbuchtungen für die Knie fehlen, stört mich gerade noch nicht. Auf dem Einzelsitz nicht mal 80 cm über Grund erreichen auch kürzere Personen stabil den Boden und tragen zum niedrigen Schwerpunkt bei. Unverständlich schmal stehen indes die Rückspiegel, die mir als ziemlich normal gebautem Menschen vor allem meine Ellbogen zeigen.
Ăśberaus wartungsfreundlich
Der Motor startet sinnreich mit dem Notaus-Schalter rechts, der spiegelsymmetrisch mit dem Lichtschalter am linken Lenkerende, aber rot ist. Auch bei Kälte, minimal waren es zwei Grad, ist kein wesentlich erhöhter Leerlauf nötig. Die Vibrationen eines klassischen Paralleltwins ohne Hubversatz, nach dem er auf den ersten Blick aussieht, kennt er nicht. Der luft- und ölgekühlte Motor mit 270-Grad-Kurbel- und einer Ausgleichswelle läuft höchst kultiviert, mit einem leisen Scheppern der gegabelten Rollenkipphebel mit ihren überaus wartungsfreundlichen Einstellschrauben. Sieht man zwar nicht, ist aber dennoch klasse: konsequent retro in diesem Detail. Sichtbar und nicht retro, aber ebenfalls intelligent ist der von vorn angeschraubte, leicht wechselbare Ölfilter.
Ist die leichtgängige Seilzugkupplung getrennt, sinkt der erste Gang bei kaltem Getriebe fast geräuschlos in Position, Anfahren geht dank buttriger Dosierbarkeit von Gas und Kupplung wie von selbst. In Verbindung mit einem für die Gattung eher steilen Gabelwinkel und einer gekonnten Gewichtsverteilung vermittelt das Gerät auf den ersten Metern Vertrauen und die Handlichkeit einer 125er. Angesichts von 240 kg Gewicht ist das beachtlich. Losfahren fühlt sich fast nach Spielkonsole an, ebenso das Schalten der folgenden Gänge. Sie klicken genauso leise und widerstandsarm wie der Erste.
Nie laut
Weil der Motor so wenig Nebengeräusch verbreitet, kann man wegen der im Motorradbau üblichen Geradverzahnung jede Gangstufe leise in ihrer individuellen Tonlage jammern hören. Der Motor verteilt immer kultiviert und gelassen bis zu 52 Nm über eine vorbildliche Drehmomentkurve. Das Auspuffgeräusch: dezent, angemessen dreckig, bei höherer Drehzahl grollend, nie aber laut. Einen Tourenzähler vermisst hier niemand. Stattdessen gibt es eine "eco"-Anzeige für Umwelt-Achtsame. Keine Spur der zeitweisen Zickigkeit und Rappeligkeit alter Motorräder, selbst viele aktuelle fordern oft mehr Gefühl und Geschick.
Laut ist out
Klartext Motorradlärm: Auf beiden Ohren taub
Das betrifft auch das Fahrwerk, bei dem nur zwei Dinge auffallen: Anders als bei der Interceptor montiert Enfield erstmals eine ganz unklassische, diskret agierende Upside-Down-Gabel, sinnigerweise von Showa. Für das, was das Motorrad kann, ist völlig in Ordnung, dass sie nicht abstimmbar ist. Hinten geht der 650er auf ausgesprochen schlechter Oberfläche schon mal der Federweg aus, kein Wunder bei nur 89 mm Dämpferhub. Besonders sind auch die Bremsen. Für die volle Wirkung der vorderen Einzelscheibe muss man kräftig hinlangen, die hintere hingegen spricht aufs leichteste Fußauflegen an, kein Wunder bei fast unglaublichen 300 mm Durchmesser. Und, ja, glasklare Druckpunkte fühlen sich anders an, doch wird niemand ernsthaft diesen Anspruch an dieses höchst kommode Alltagskrad stellen wollen.
Royal Enfield Shotgun 650 II (9 Bilder)
Florian Pillau
)Nicht dick zum GlĂĽck
Es ist Enfield hoch anzurechnen, vorn keinen dicken Reifen vorzusehen, nur, weil das zum Konzept "Bobber" gepasst hätte. Die Handlichkeit hätte darunter gelitten. Mit 100/90-18 vorn und 150/70-17 hinten lenkt die Enfield fast von selbst ein, langsam gefahren sogar fast ein bisschen zu freudig. Spätestens auf schlechten Straßen wird das zum Nachteil, dort wird sie regelrecht unruhig, was freilich nicht nur an der Bereifung, sondern am Fahrwerk insgesamt liegt. Das Fabrikat ist übrigens CEAT, eine indische Marke aus dem Pirelli-Universum.
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Ich habe die Reifen, "Zoom Rad" hinten und "Zoom Cruz" vorn, nicht in ihren Grenzbereich gebracht, weil es oft nur um fünf Grad kalt und die Kurvenstrecken im bayerischen Oberland feucht, meist laubbedeckt und streckenweise mit Erde verschmutzt waren. Nicht die beste Jahreszeit, aber ein dazu passendes Motorrad, mit dem endlich mal der Rücken sauber und trocken geblieben ist. Der Fett-Fender erweist in Verbindung mit der anschließenden, großen Nummerntafel Nutzwert über den bloßen Hinweis auf einen Bobber hinaus und zeigt: Der Mode-Mainstream "weg mit dem Heck" ist auch nicht gerade unprätentiös.
Royal Enfield Shotgun 650 III (15 Bilder)
Florian Pillau
)Die Gemütlichkeit des Fahrens wird von der Enfield sehr konsequent zelebriert und genau das macht sie zu einem Motorrad für einen ziemlich definierten Fahrerkreis. So exponiert einen die Sitzposition derart den Elementen, dass es schon ab 90 km/h ungemütlich werden kann. Das muss ja nicht sein, nur weil eine Verkleidung oder Scheibe fehlt: Es gibt durchaus Nackte, wie etwa eine Moto Guzzi V7 850, die man viel länger mit 100 km/h bewegen kann, ohne am Ende Muskelkater zu bekommen.
Eine Frage der Haltung
Der Unterschied im direkten Vergleich ist erstaunlich, überraschend ist er aber nicht. Auf der V7 sitze ich vergleichsweise (!) mit der Enfield wie auf einem Streetfighter – mit deutlich engerem Kniewinkel und von einem breiten Lenker weiter nach vorn gespannt. Das Krad aus Indien erinnert dagegen an einen Küchenstuhl mit Polstersitz. Auf ihr bringt die Verbindung aus niedrigem Sattel und fast nicht angewinkelten Knien die Fußrasten weit nach unten. Damit setzen sie früher auf. Ich müsste mich also in Kurven hineinlehnen, wenn ich schnell sein wollte. Engagiert fahren mag ich in dieser 1930er-Jahre-Haltung auf Dauer nicht.
Moto Guzzi V7 Special im Test
Moto Guzzi V7 Special im Test
Warum wir übrigens so und nicht anders verglichen haben? Mein Kollege und Motorrad-Schreiber Clemens Gleich hatte mir empfohlen, die Shotgun zu testen. Seiner Meinung nach sei ich als V7-Fahrer der Richtige für ein fundiertes Urteil. Er irrte, aufgrund einer oberflächlichen Ähnlichkeit der beiden: Die Guzzi mag sich stilistisch auf einer Retro-Ebene mit der Enfield befinden, doch bewegt sie sich durchaus noch ähnlich wie ihre klassischen Vorfahren. Sie berücksichtigt den Fahrer und bindet ihn fahrdynamisch ein. Auf der V7 will ich daher durchaus oft ein bisschen wissen, was in der nächsten Kurvenkombination geht, während mich die Shotgun brav und sanft um die Kurven herumträgt. Einmischung durch den Fahrer durch dynamischen Fahrstil? Eher unpassend. Den angegebenen Verbrauch konnte ich so leicht unterbieten, statt der 4,55 Liter wurden es nur 4,23 Liter je 100 km, eine Drei vor dem Komma geht ohne Selbstkasteiung.
Freundlich zugewandt
Auch ohne ein rastenkratzender Angstrand-Ehrgeizling zu sein, wäre mir die neue Enfield zu mild. Die Shotgun ist ein absolut freundlich-zugewandtes Bike, fast hätte ich noch "achtsam" hinzugefügt. Ungeachtet ihres martialischen Namens lebt sie die Gelassenheit eines indischen Yogi und empfiehlt sich mit ihrer grundentspannten Haltung im doppelten Sinn zum Herumkullern zwischen Badesee und Eisdiele. Oder für die Hausbesuchstour eines Landarztes. Mit einer Scheibe könnte ich sie mir auch zum gemütlichen Reisen vorstellen. So einsteigerfreundlich unkompliziert sie ist, so sehr könnten sich die Geister letztlich an ihrer Manufactum-Ästhetik scheiden. Teuer ist sie mit 7790 Euro für die gezeigte Maschine und für mindestens 7590 Euro (gleiches Grau, ohne Weiß) für das Gebotene keinesfalls.