#20JahreHO

20 Jahre heise online: Nichts ist nur Geschichte, nichts ist nur Zukunft

Vor 20 Jahren startete der Newsticker von heise online unspektakulär mit 4 Nachrichten. Ein erster Rück- und Ausblick: eine Art Erinnerungserinnerung und ein Beginn der Zukunft.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 250 Kommentare lesen
On, Einschalten, Start
Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hal Faber
Inhaltsverzeichnis

Am 17. April 1996 startete heise online mit drei Verlinkungen und einer Nachricht. Die ersten Link-Meldungen über Sicherheitsprobleme von Java und JavaScript, das Abkassieren mit Hilfe von Patenten sowie die Einigung zwischen dem Abmahnanwalt von Gravenreuth und Microsoft zeigten bereits die ganze thematische Spannbreite, die IT-Nachrichten in der postindustriellen Informationsgesellschaft haben können. Die erste eigenständige Nachricht handelte vom Network Computer, den Oracle-Chef Larry Ellison damals propagierte, ein früher Vorläufer des Smartphones, das seine Apps aus dem Netz holt.

20 Jahre heise online

Vor 20 Jahren, am 17. April 1996 fing mit der ersten Tickermeldung eigentlich alles an: Der Newsticker legte los und damit begann die eigentliche Geschichte von heise online, der Nachrichten-Site des Heise Verlags rund um IT, Hightech und die digitale Gesellschaft. In Artikelstrecken, Hintergrundbeiträgen und Aktionen mit Usern auf heise online wollen wir die Geschichte (und die Zukunft der digitalen Gesellschaft) beleuchten - und auch Party feiern. Stay tuned: Die Online-Themenseite #20JahreHO wird alle Artikel und weiterführenden Informationen rund um "20 Jahre heise online" versammeln.

Heise online startete ohne große Absichtserklärungen und Zukunftsmanifeste, doch keineswegs aus dem Nichts. Die Heise-Zeitschrift iX hatte unter www.ix.de bereits ein kleines Angebot an den Start gebracht, weil man dort mit Begeisterung am eigenen Web-Server bastelte. Der war erstmals auf der CeBIT 1994 vorgestellt worden. Zuvor gab es zudem das Gernet der c't-Redaktion, ein Mailbox-Angebot auf Fidonet-Basis mit Gateways in andere Netzwelten. Wie zum 10. Geburtstag "uasgeführt", konnte heise online erst starten, nachdem der Verlag die Domain heise.de übernommen hatte. Das große Lernen konnte beginnen.

Platon legte als optimale Größe für die Bevölkerung einer Stadt die Anzahl von Bürgern fest, die die Stimme eines einzelnen Redners verstehen können. Heute bezeichnen diese Grenzen nicht mehr eine Stadt, sondern eine Zivilisation. Überall dort, wo die neotechnischen Instrumente verfügbar sind und eine gemeinsame Sprache der Bürger existiert, bestehen Elemente einer Gemeinschaft, die jenen der einstigen kleinsten attischen Städte ähneln", schrieb Lewis Mumford 1934 in "Technics and Civilization". Der Blick auf die Geschichte der Gemeinschaft von heise online eröffnet den Reigen der Geburtstagsständchen.

Im Frühjahr 1996 war die Netzwelt, zumal in Deutschland und Europa, voll von großartigen Entwürfen und Manifesten. Etliche Verlage veröffentlichten Texte mit Erklärungen, was diese Netzrevolution für die Gesellschaft bedeutet, in einem "Kursbuch neue Medien" schwärmte man bereits vom Übergang von vernetzten zu virtuellen Unternehmen. Das "Web-Magazin" Telepolis, damals noch nicht zum Heise-Verlag gehörend, veröffentlichte Die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von Perry Barlow, die dieser auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos und später auf der Multimedia-Messe Milia in Cannes vorgetragen hatte.

An den Küsten des Lichts trat Barlow, der Mitgründer der EFF, wie ein amerikanischer Prediger auf und erntete minutenlangen Beifall. "Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes", predigte Barlow. "Wir werden eine Welt schaffen, in der jeder überall seine Meinung ausdrücken kann, egal wie vereinzelt sie sein mag und sie ausdrücken kann, ohne Angst davor, zum Schweigen oder zum konformen Denken gezwungen zu werden."

Was die Giganten nicht sonderlich beeindruckte. In Cannes hatte Tags zuvor ein siegessicherer Thomas Middelhoff den Start von AOL Deutschland verkündet und von der Killer-App des Hauses Bertelsmann gesprochen. Computerfirmen wie DEC hübschten sich auf und nannten alles Altavista, was nicht bei drei auf den Bäumen war. So hieß die führende Suchmaschine, die beizeiten registrierte, dass ein Browser namens Netscape Navigator das Rennen machte.

Dann gab es da noch den aufstrebenden Autor Bill Gates, der in seinem Buch "The Road Ahead" (in der deutschen Ausgabe "Der Weg nach vorn" betitelt) Ende 1995 von einem Information Superhighway geschwärmt hatte. In zweiter US-Auflage 1996 als Taschenbuch bzw. der ersten deutschen Auflage waren viele Kapitel komplett neu geschrieben: Auch Microsoft hatte das Internet entdeckt.

Auch der Start von heise online reflektierte die "Netzpolitik" dieser Tage: Der erste Artikel mit einem inaktiven, aber in den Browser kopierbaren Link berichtete davon, dass US-amerikanische Richter den Communications Decency Act kippten, mit dem der Demokrat Bill Clinton das Internet zensieren wollte, wegen der Kinder. Den ersten echten Link findet man nach dem Umzug von Telepolis zu Heise unter der schlichten Frage, wann Links strafbar sind. Ein Thema, was uns bis heute beschäftigt.

Zeitreise: heise online im Lauf der Jahre (22 Bilder)

Spartanische Anfänge...
(Bild: heise online / Wayback Machine)

Fehlt etwas? Genau, die Heise-Leser, das wunderbare, beste Publikum der "Social Media", auf ewig. Die Fans in den Foren, die Trolle, die Tippfehlermitesser und der ganze Rest, die derzeit tagtäglich 4800 Postings absetzen. Heise-Foristen, die tolle Tippgeber oder eine schier unendliche Quelle der Motivation sind, wahlweise auch die Entitäten, die jeden Autor in den Wahnsinn treiben können.

An dieser Stelle versagt die Aufschreibekunst des Chronisten, denn es gab einen Löschversuch der allerersten Heise-Foren, in denen ab 1999 jedefrau und jedermann ohne Registrierung kommentieren konnte. Die große Löscherei gegen die Entwicklung der Heise-Kultur, die Leser traurig, peinlich und enttäuschend fanden, konnte zwar in letzter Minute gestoppt, die Foren erhalten werden.

Doch die zu einer Chronik gehörende Frage, wer wirklich Erster überhaupt war, ist heute nicht mehr zu beantworten. Die erste Meldung, zu der das anarchisch-unregistrierte Forum mit Dutzenden von Beiträgen "unregistrierter Verfasser" noch existiert, ist lustig, geht sie doch über die Schlamperei auf anderen Websites.

Als nach einem halben Jahr mit erst registrieren, dann kommentieren der große Bruch kam, gleich nach dem wunderbar unkomplizierten Jahreswechsel, da schwankte die Stimmung der getreuen Leser. "Endlich sind die Foren wieder lesbar", schwärmten die einen, während die anderen vom Ende der Meinungsfreiheit sprachen. Ungeachtet dieser Einschränkung entwickelte sich rund um heise online eine Forenkultur, die viele Facetten hatte, vom albern-avantgardistischen Informäschion worfär, der jeden modernen Chatbot locker in den Schatten stellt, bis hin zur großen Fischkeilerei, bei der die Heringe nur so flogen anlässlich der Aussage, dass Microsoft von Linux lernen kann. Was Microsoft heute tut, ohne einen einzigen ><((((º> oder <°>>>< zu kassieren.

Sieben Millionen, 10 Millionen und aktuell 28,47 Millionen Kommentare zeigen meinungsfreudige Leser und künden davon, dass Foren funktionieren, trotz vielfältiger Kritik an der Software. Das geht weitgehend ohne Zensur, wenngleich mitunter eine Ansprache nötig ist, wie beim Tod des Rechtsanwalts von Gravenreuth.

Oder sogar mal ein Forum geschlossen werden muss, weil die Hassprediger überhand nehmen. Denn genau, es sind keineswegs die mehr oder weniger lustigen, mehr oder weniger nervenden Trolle, die ein Forum unlesbar machen, sondern die Hassprediger und Fundamentalisten jedweder Coleur, die auch den geduldigsten Redakteur mal ein "Verpisst Euch!" in die Foren brüllen lassen. Die Trolle dagegen, die intelligenten ebenso wie die (höflich formuliert) eher bemühten, die können sogar ein Zeichen dafür sein, dass ein offenes Forum funktioniert und lebt.

Mit dem umtriebigen Anwalt Gravenreuth verbinden sich ab der ersten Meldung vom allerersten Tag von heise online so viele Geschichten, dass eine Auswahl vonnöten ist.

Unbestritten ist, dass die Nachricht von seinem Tode mit 2.463.634 Abrufen am Todestag immer noch der Spitzenreiter in der Heise-Statistik ist, gefolgt von der Nachricht seiner größten Niederlage mit 2.095.596 Abrufen.

Unbestreitbar ist auch, dass der Heise-Verlag einen Prozess gegen ihn verlor, weil diese Wochenschau auf ein waffenstarrendes Privatbild des Anwaltes verlinkte und das Gericht darin eine Verletzung des Persönlichkeitsrechtes sah.

Ferner muss man daran erinnern, dass Gravenreuth nach vielen Eskapaden wie www.nicht-von-heise-kopieren.de eine Verpflichtungserklärung unterschreiben musste, fürderhin nicht mehr im Heise-Forum aufzutreten.

Dennoch gehört zu einer ordentlichen Chronik die wunderbare Geschichte der allgemeinen Aufregung um msg=251, die das "deutsche Internet" zum Beben brachte. Die Debatte, ob hier ein Fehlposting, ein Fake oder gar ein Gemeinschaftswerk der Kontrahenten vorlag, beschäftigte nicht nur die Leser, sondern andere Foren bei Juramail und Advograf.

Dass in den Foren abseits der Nicklichkeiten auch Platz für ernstere Dinge und Gefühle ist, zeigen Leser-Reaktionen, wenn es um den Abschied geht, sei es nur temporär, wie im Falle von Twister, sei es für immer, wie bei Douglas Adams oder Dennis Ritchie. Beim Abschied von Steve Jobs profitierte davon die Zeitschrift hinter heise online.

Wie überhaupt das Geben und Nehmen bis heute ein ständig ablaufender Prozess ist. Ohne die launige Mithilfe der Leser beim Hin- und Herübersetzen (für Groklaw) wäre die unendliche Geschichte um SCO niemals zustande gekommen, die viele Jahre lang den Freitag veredelte. Die Hommingberger Gepardenforelle wäre ohne die Mithilfe der Leser längst in ihrem prekären Habitat ausgestorben.

Und vielleicht wäre das ungemein wichtige Terror-Bit als Entscheidungshilfe für Netzsperren nie entdeckt worden.

Tatsächlich spielte die "Netzpolitik" von Anfang an eine wichtige Rolle in der Berichterstattung von heise online: Die längste Nachrichtenmeldung des allerersten Jahres beschäftigte sich mit der Sperrung der Homepage der PDS-Politikerin Angela Marquardt durch ihren Provider Compuserve – und der Sperrung von rechtsextremistischen Zündelsites. Später berichtete heise online vom Kampf gegen das gefilterte Internet, wie es dem damaligen Düsseldorfer Bezirkspräsidenten Jürgen Büssow (SPD) vorschwebte. Diese Geschichte wiederholte sich mit dem Versuch der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU), Kinderporno-Sperren einzurichten, statt auf Löschung der Inhalte zu bestehen.

Mit den ständig wachsenden Foren wurde es unvermeidbar, dass sich heise online mit den Regeln für die sogenannte Forumshaftung auseinandersetzte, in den Foren, aber auch vor Gericht im Streit mit dem "Domain-Engel" Mario Dolzer. Die Störerhaftung eines Forenbetreibers wurde später anders ausgelegt, doch bleibt die Sache unverändert spannend, genau wie die aktuell diskutierte Störerhaftung bei WLAN-Anbietern.

Noch dicker sind die Aktenberge beim Streit mit der Musikindustrie um die Haftung für Links auf Seiten, die Kopierschutzmechanismen aushebeln. Heise vs. Musikindustrie etwa, das ist ein Thema, das im Zuge der mit diesem Artikel nicht beendeten, sondern gerade erst gestarteten Geburtstagsfeierlichkeiten noch ausführlicher in einem eigenen Rückblick dargestellt wird.

Die Zukunft von heise online liegt – Überraschung, Überraschung – auch in der Vergangenheit. Keine Frage, dass die NSA-Berichterstattung der alltäglichen Überwachungspraxis von Geheimdiensten weiter fortgeführt wird, wo man mit Massen- und Metadaten hantiert, aber damit keine Massenüberwachung betreiben will. Dafür haben sich beispielsweise nach bescheidenen Anfängen zur Geschichte der Weltraumfahrt die Berichte zur Weltraumforschung zur Überraschung der Redaktion als neues Lieblingsthema der Leserschaft fantastisch entwickelt.

Gut möglich, dass der Bericht zum 40. Geburtstag von heise online von einer Weltraumstation geschickt wird. So optimistisch gestimmt, kann die Feier beginnen. (jk)