Die Netzzukunft, wie Vint Cerf sie sieht

Auch nach mehr als 20-jähriger Netzwerkarbeit hält der Datenraum für den TCP/IP-Miterfinder und ICANN-Vorsitzenden Überraschungen parat.

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Auch nach mehr als 20-jähriger Netzwerkarbeit hält der Datenraum für Vint Cerf Überraschungen parat: "Das Internet verblüfft mich immer wieder als ein Gebiet komplexer Evolution", sagt der Miterfinder der grundlegenden Netzwerkprotokolle TCP/IP. Der "Vater" des Internet ist aber selbst immer wieder für Überraschungen gut. So präsentierte er auf der 4. Tagung des ICANN-Studienkreises einen 14-Punkte-Plan zur Zukunft des Cyberspace. Darin bündelte er die wichtigsten "Hausaufgaben" für die technischen und politischen Netzregulierer rund um die Domain-Verwaltung, IPv6, Breitband, Netzsicherheit, Datenkommunikation im Sonnensystem und Selbstregulierung. Sein Hauptziel -- und letztlich das der ganzen Surfergemeinde -- sei, "das Internet am Laufen zu halten", erklärte der Techniker. Dazu werde er auch in Zukunft alle nötigen Schritte ergreifen -- mit oder ohne ICANN.

Der Vorsitzende des Direktoriums der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) sieht zu dieser umstrittenen Schaltstelle des Netzes bislang aber keine Alternative. "Die Wahrscheinlichkeit, dass es einen erfolgreichen Wettbewerber zu ICANN gibt, ist sehr gering", erklärte Cerf am Rande der Tagung. Stattdessen positionierte der Manager, der beim insolventen Telekom-Riesen Worldcom tätig ist, das Prinzip der Kooperation an oberster Stelle seiner Agenda. "Alle Interessenskreise von ICANN müssen stärker zusammenarbeiten, selbst wenn sie auf einzelnen Ebenen miteinander konkurrieren", forderte Cerf. Zugleich plädierte er dafür, den Bestrebungen zur Reform der Netzverwaltung Raum zur Entfaltung zu lassen.

Mauscheleien

Auch in Berlin musste sich das ICANN-Oberhaupt heftige Kritik anhören, dass die in Kalifornien angesiedelte Organisation nur noch im eigenen, ungenießbaren Saft schmore. "Hier reden ja alle nur noch in Abkürzungen", geißelte Bernd Holznagel vom Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht der Uni Münster das Zirkeltum der ICANN-Gemeinde. Das sei absolut verwirrend und es gebe in Deutschland wohl nur einen Kreis von 50 Leuten, der da mitkomme. Selbst falls es 500 sein sollten, blieben die politischen Kräftefelder in und hinter der ICANN doch unübersichtlich.

Der Dauerschelte will Cerf durch eine bessere Repräsentation einzelner Interessenslager wie dem der Internet-Provider, der Verwalter der Länderdomains oder der allgemeinen Nutzergemeinde entgegenwirken. Dabei sollten alle Gruppierungen -- und insbesondere die Regierungsvertreter -- aber nicht vergessen, dass alle Regularien nur Sinn machen würden, wenn sie auch implementiert werden könnten.

Der längere Teil der Agenda des stets im dreiteiligen Anzug auftretenden Internet-Dandys besteht aus technischen Problemzonen. Die Sicherheit des Internet sei ein wichtiger Punkt, so Cerf, wie die Durchschlagkraft des SQLSlammers gezeigt habe. Dass der Wurm innerhalb von 10 Minuten 600.000 Maschinen infiziert habe, zeige, dass die Computer am Rande des Netzwerks immer schneller und die Probleme damit immer größer würden. TCP/IP sei auf die große Bandbreite im Zugangsbereich heute noch nicht ausgelegt.

Generell ist Cerf wenig angetan von der momentanen Form der "Breitbandrevolution" auf Basis von DSL. Der Telco-Experte stößt sich daran, dass damit die Herrscher über die Ortsnetze das Geschäft der Internet-Zugangsversorgung komplett übernehmen können. Prinzipiell sollte das Breitbandnetz aber allen Providern offen stehen. Ferner beklagt Cerf die "Asymmetrie" der gängigen DSL-Angebote: Neue Dienstleistungen würden behindert, wenn der Pfad zum Kunden größer sei als der von ihm wegführende.

"Glasfaser für alle" sei die einzige Lösung, ist sich der alte Netzhase sicher. Nur so sei ein symmetrischer Zugang zu gewährleisten. Natürlich gebe das einen Aufschrei in der Copyright-Industrie, da die Nutzer dann noch einfacher Dateien tauschen könnten. Aber in der digitalen Welt kämen die Medienkonzerne genauso wenig wie die sich nicht überall gleich auf Voice-over-IP einstellende Telco-Branche um die Neuausrichtung ihrer Geschäftsmodelle herum.

Semantik

Zwiespältig sieht der Netzpionier auch IPv6. "Wir brauchen es dringend", sagte Cerf. "Aber wir haben noch viel Arbeit vor uns." Da es sich um ein gänzlich neues Protokollformat handle, müsse auch das Domain Name System (DNS) grundsätzlich reformiert werden. Cerf baut darauf, dass die heute zur künstlichen Erweiterung des Adressraums eingesetzten NAT-Rechner künftig für die Vermittlung zwischen den beiden Protokollwelten eingesetzt werden können. Am DNS selbst will der Netzwerker nicht festhalten, da es nur eine "enge Funktion" umfasse und durch leistungsfähigere Verzeichnisse abgelöst werden sollte. Das Projekt ENUM zur Koppelung von Telefonnummern mit Internet-Adressen greife aber zu kurz. Mehr Hoffnung setzt Cerf auf das semantische Web, das Inhalte im Datenmeer mit Bedeutungen zusammenführe und Suchprozesse erleichtere.

Begeistert zeigte sich der Weltraumfan weiterhin von seinem Ansinnen, gemeinsam mit der NASA das Sonnensystem zu vernetzen. Vom Absturz der Columbia sei das Vorhaben bislang nicht betroffen, meint Cerf: "Gerade sind zwei Roboter auf dem Weg zum Mars, die das interplanetarische Protokoll nutzen." 2009 rechnet der Visionär mit einem festen Satellitenring rund um den Roten Planet, der die Datenkommunikation im All ermöglicht. Da diese auf Grund der vielen, sich der Übertragung in den Weg stellenden Planeten von ähnlichen Abbrüchen geplagt sei wie der Mobilfunk, hofft Cerf auf kommerzielle "Abfallprodukte" aus der Weltraumvernetzung für den irdischen Bereich. (jk)