Autonomer Postbus: Ein "Meilenstein" für den öffentlichen Nahverkehr

In der Schweiz hat die Ära autonomer Nahverkehrsmittel im öffentlichen Raum begonnen. Schauplatz und Einsatzort der PostAuto-SmartShuttles ist der Kanton Wallis. heise online war dabei.

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Autonomer Postbus: Ein "Meilenstein" für den öffentlichen Nahverkehr

(Bild: heise online/Sperlich)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Tom Sperlich
Inhaltsverzeichnis

Es ist heiß, sehr heiß. Für Sitten – oder Sion, wie die Walliser Kantonshauptstadt auch heißt – es ist der bisher wärmste Tag des Jahres. Bei 34 Grad hat sich Prominenz aus Politik und Wirtschaft, begleitet von einem Troß Journalisten, in dem malerischen Städtchen eingefunden. Es gibt etwas zu feiern: Den ersten Dauertest eines autonomen Personenbeförderungsmittels im öffentlichen Raum. Die Schweizer sagen stolz: Das ist weltweit einmalig.

Merklich aufgeheizt entstieg Bürgermeister Marcel Maurer nach der ersten Runde durch die Straßen und Gassen dem kleinen gelben Gefährt. "Die Klimaanlage im SmartShuttle ist noch nicht so richtig wirksam", sagte Maurer und zog seine Jacke wieder an. Draußen wars dem Stadtchef womöglich etwas kühl, angesichts der Saunatemperaturen in dem mit elf Passagieren auch vollgepackten Minibus.

Vom vernetzten zum autonomen Auto

"Ausgerechnet heute ist es so heiß." Jürg Michel, Projektleiter der PostAuto Schweiz AG, war die Erleichterung über die gelungene Jungfernfahrt anzumerken. "Unter solchen Bedingungen konnten wir den Shuttlebus bisher noch nicht testen." Doch auch alle weiteren Testfahrten verliefen glatt. Fast: Nach einer überraschend abrupten Bremsung hatte eine mitfahrende Kamerafrau Mühe sich auf den Beinen zu halten. Ein etwas zu nah kreuzender Fahrradfahrer hatte die Vollbremsung ausgelöst – ein ungeplanter Reaktionstest für das autonome Fahrzeug.

Bevor er auf die Sittener Straßen losgelassen wurde, war "Arma", wie der fahrerlose Elektro-Kleinbus des französischen Herstellers Navya heißt, sechs Monate auf einem Privatgelände unterwegs und musste zahlreiche Tests absolvieren. Nun muss er sich weitere eineinhalb Jahre unter realistischen Bedingungen im Alltag bewähren.

Damit das SmartShuttle sicher unterwegs ist, ist es hinten und vorne mit jeweils drei LIDAR-Sensoren ausgestattet (Light Detection and Ranging – auch als Laser- oder 3D-Scanning bekannt). Mit verschiedenen Radien und Blickwinkeln sorgen sie für die 3D-Wahrnehmung der Umgebung, die Kartografierung der Standorte und eine auf 5 Zentimeter genaue Positionsbestimmung. Die exakte Position des Fahrzeugs wird zudem durch einen GPS-Sensor erfasst. Eine Stereo-Vision-Kamera hilft dem Arma, Hindernisse zu erkennen und ihre Position im Verhältnis zum Fahrzeug einzuschätzen. Auch hilft sie bei der Analyse der Verkehrsumgebung (Straßenschilder, Ampeln etc.).

Das ganze überwacht eine Software, die das Start-up BestMile in enger Zusammenarbeit mit Navya entwickelt. BestMile ist ein Spin-off der Polytechnischen Hochschule Lausanne (EPFL), die an der Weiterentwicklung des Systems mitarbeitet. Das sogenannte Flottenmanagement kümmert sich um die Betriebskontrolle der fahrenden Shuttles und eventuelle Notfallmaßnahmen. Dazu überwacht ein Teleoperator in der Betriebszentrale kontinuierlich den Einsatz der autonomen Shuttles und kann aus der Distanz auch sofort eingreifen und den Bus stoppen. Auch Aufgaben wie Dispatching, Routing, Auflademanagement und die Planung von Wartungsarbeiten werden mit der Software gesteuert. An die Plattform docken verschiedene Passagierinformationssysteme wie Smartphone-App und Haltestellen-Displays an.

Darüber hinaus ist bei jeder Fahrt auch ein "Sicherheitsfahrer" mit an Bord des an sich autonomen Shuttles. Diese Mitfahrer oder "Grooms", wie der Betreiber sie nennt, erfüllen die gleich Funktion wie "die Personen, die die ersten Personen-Lifte begleitet haben und damit auch Sinnbild für eine technische Pionierleistung waren", wie Daniel Landolf, Chef von PostAuto Schweiz in seiner Eröffnungsrede erklärt.

Die Grooms sind vor Ort verantwortlich für die Einsatzüberwachung, das einwandfreie Funktionieren der Shuttles sowie die Sicherheit der Fahrgäste. Sie können mittels eines der beiden Notfallknöpfe eine Notbremsung einleiten, sie informieren die Fahrgäste und helfen ihnen beim Ein- und Aussteigen (etwa mit Rollstühlen oder Kinderwagen). Mit einem Joystick kann der Sicherheitsfahrer nötigenfalls auch kleinere Korrekturen der Fahrbewegungen vornehmen.

Bis Herbst 2017 werden die zwei Armas zunächst einen kleinen Rundkurs durch die teils verwinkelte Altstadt von Sitten abfahren, wo sonst kein anderer Bus kreuzt. Allerdings läuft der Betrieb vorerst nur Dienstag bis Sonntag, am Montag hat das Shuttle Ruhetag. Und auch nur jeweils am Nachmittag können Passagiere das clevere Büsslein bei einer derzeitigen Geschwindigkeit von 20 km/h nutzen. Die mögliche Höchstgeschwindigkeit soll laut Navya bei 45 km/h liegen. Je nach Ergebnis des Betriebs überlegt sich PostAuto für eine spätere Phase auch einen ausgebauten Fahrplan, hieß es bei der Eröffnung am Donnerstag.

Jungfernfahrt des autonomen Postbusses in Sitten (6 Bilder)

Zwei der kleinen Navya-Busse sind seit dieser Woche auf Sittener Straßen unterwegs.
(Bild: heise online/Sperlich)

Denn offenbar mit Gemach will man die Bürger und die anderen Verkehrsteilnehmer des 33.000-Seelen-Städtchens an das spezielle Gefährt gewöhnen, das schon am Eröffnungstag des Regel-Testbetriebs für reichlich Aufsehen sorgte. Seit der Ankündigung Ende 2015 wurde einiges verbessert an den Mini-Bussen: eine zweite Batterie sorgt für eine verlängerte Betriebszeit, die derzeit bei etwa zehn Stunden liegt. Es wurde eine Klimaanlage eingebaut und dank einer Rampe können jetzt auch Personen mit eingeschränkter Mobilität die Shuttles nutzen. Die Verbesserungen waren nach dem sechsmonatigen Offroad-Test als nötig erachtet worden.

Da die gesetzlichen Bestimmungen für den Einsatz autonomer Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen noch nicht abschließend geregelt sind, erteilten die Behörden Sonderbewilligungen für den Testbetrieb. Da man die Verkehrspolitik von morgen verlässlicher auf künftige Entwicklungen und Bedürfnisse ausrichten wolle, seien Versuche wie der in Sitten wichtig, sagte Erwin Wieland, Vizedirektor des Bundesamts für Straßen (Astra). "Und aus verkehrspolitischer Sicht braucht das heutige Verkehrssystem dringend eine Effizienzspritze."

"Ein Meilenstein" sei der Versuch wegen der umfangreichen Vorarbeiten auch für die Behörden, sagte Wieland. "Denn im geltenden Straßenverkehrsgesetz kommen Fahrzeuge ohne Gas- und Bremspedal und erst recht ohne ein Lenkrad schlichtweg gar nicht vor." Daher komme noch einiger Regulierungsbedarf auf Politik und Verwaltung zu. Da beim SmartShuttle-Test verschiedene Technologien ineinandergreifen, waren auch "nicht weniger als fünf kantonale und nationale Behörden involviert", zählt der Astra-Vize auf. Und da es weder Erfahrungswerte noch zertifizierte Prozesse gibt, war das "etwas ganz Schlimmes für die Verwaltung. Hier wurde also Neuland in mehrerlei Hinsicht betreten".

Mit dem Projekt sollen nicht nur Erfahrungen mit dem Betrieb autonomer Fahrzeuge gesammelt werden. Es geht auch um die Frage, wie die Bevölkerung und insbesondere andere Verkehrsteilnehmer die neue Technik akzeptieren. PostAuto und Partner wollen herausbekommen, ob der Einsatz von autonomen Fahrzeugen im öffentlichen Raum – beispielsweise in Fußgängerzonen und autofreien Ortschaften – oder auf Firmengeländen möglich ist. Als Anbieter von Mobilitätslösungen wolle man eventuell auch Orte erschließen, die bisher vom öffentlichen Verkehr nicht bedient wurden. Dazu gehöre auch die Bedienung der letzten Meile. Es sei jedoch nicht das Ziel, auf den bestehenden Linien Busse durch autonome Fahrzeuge zu ersetzen.

Dass Sitten als Ort für den Testbetrieb gewählt wurde, hat seinen guten Grund: 2014 wurde hier von fünf Partnern aus der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik das Mobility Lab gegründet. Zu Stadt und Kanton gesellten sich die Schweizer Post, die EPFL, die Fachhochschule Westschweiz (HES-SO), alles unter der Koordination der PostAuto Schweiz. Gemeinsam will man ganzheitliche Mobilitätslösungen entwickeln, welche PostAuto als wichtige Institution des Schweizer ÖV anbieten könne.

Die Busse der PostAuto befördern mit rund 2200 Fahrzeugen pro Jahr rund 141 Millionen Fahrgäste. Ihre Markenzeichen – das Dreiklanghorn und die gelben Postautos – gehören zur kulturellen Identität der Schweiz, sagt das Unternehmen stolz.

Autonome Busse in Sitten (Sion) (12 Bilder)

(Bild: Postbus)

(vbr)