Mehr Staat wagen

Lohnt es sich, der Vision vom unreguliertem Internet hinterherzutrauern?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 5 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.

„Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Grenzen. Ich erkläre den globalen sozialen Raum für unabhängig von der Tyrannei, die Ihr uns aufzwingen wollt. Ihr habt weder das moralische Recht noch irgendwelche Mittel, sie durchzusetzen. Ihr behauptet, es gebe Probleme bei uns, die Ihr lösen müsstet. Diese Behauptung nutzt Ihr als Vorwand, auf unser Gebiet einzudringen. Viele dieser Probleme existieren nicht. Wo es echte Konflikte gibt, werden wir sie identifizieren und auf unsere Weise angehen.“

Es waren starke Worte, die Internet-Aktivist John Perry Barlow 1996 den Regierenden dieser Welt in seinem berühmten Manifest entgegenschleuderte. Auf technischer Ebene ist es heute offenkundig, dass er sich irrte: Autoritäre Staaten wie China und Russland zeigen, dass sie das Netz durchaus weitgehend kontrollieren können.

Doch wie sieht es in Rechtsstaaten aus? Ist Barlows Vision überhaupt eine, der sich hinterherzutrauern lohnt? Oder anders gefragt: Leidet das Internet heute nicht eher unter zu wenig statt zu viel (rechts-)staatlichem Einfluss?

„Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ – nimmt man diese konservative Parole ernst, bedeutet das meines Erachtens: Es ist Aufgabe einer unabhängigen Justiz, Hass und Hetze im Netz zu verfolgen und gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung abzuwägen. Was aber tut der Gesetzgeber? Er delegiert die Entscheidung an private Plattformbetreiber, und diese reichen sie weiter an mehr schlecht als recht funktionierende Algorithmen. Es gibt keine transparenten Entscheidungen, keine Berufungsinstanz, keinen Rechtsweg – all das, was in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Brauchen wir also so etwas wie eine Internetpolizei?

Wolf Schünemann, Juniorprofessor für Politik und Internet an der Uni Hildesheim, rät zu einer differenzierteren Betrachtung: „Barlows Manifest hatte eine enorme popkulturelle Bedeutung. Aber trotzdem gibt es ein klares Hierarchieverhältnis zwischen Staat und Internet: Der Staat war nie weg. Es lässt sich heute immer stärker beobachten, dass demokratische Staaten selbstbewusst eingreifen.“

Das Argument, etwa beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz würden hoheitliche Aufgaben an private Provider delegiert, findet er zwar berechtigt. „Aber wie soll es anders funktionieren? Eine Internetpolizei würde nicht nur einen enormen Aufwand für einen Kontroll-Apparat bedingen, sondern auch zu einer noch stärkeren internationalen Fragmentierung des Internets führen.“

Handlungsbedarf sieht er vor allem bei Hass-Rede und Verunglimpfungen. Ein stärkeres staatliches Vorgehen gegen Desinformationen und Fake News hingegen findet er problematisch. „Dann maßt sich eine Instanz an, über gute und schlechte Informationen zu entscheiden. Wir sollten erst einmal die gesellschaftliche Wirkung absehen.“

Ob man, wie Barlow, an die Selbstheilungskräfte des Internets glaubt, hängt auch stark vom eigenen Menschenbild ab. Vielleicht bin ich selbst in dieser Hinsicht ja zu pessimistisch – meint jedenfalls meine Kollegin Eva Wolfangel. Hoffentlich hat sie Recht. In der aktuellen TR-Ausgabe (jetzt am Kiosk oder hier zu bestellen) diskutieren wir beide die Frage, ob der Staat mehr Einfluss auf das Netz braucht. Spoiler: Es gibt Grund zur Hoffnung.

(grh)