Digital Services Act: Rechtliches Betriebssystem gegen das wilde Netz

Experten werten den von der EU-Kommission vorgeschlagenen Rahmen für digitale Dienste als "eierlegende Wollmilchsau der Plattformregulierung".

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(Bild: Primakov/Shutterstock.com)

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Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sehen Licht und Schatten in den am Mittwoch von der EU-Kommission präsentierten Verordnungsentwürfen für strengere Regeln für Online-Plattformen. Es handle sich um nichts weniger als den Plan für "eine neue Version des rechtlichen Betriebssystems für digitale Dienste", erklärte der Stuttgarter Medienrechtler Tobias Keber. Das Vorhaben könne hinsichtlich seiner Tragweite ohne Frage mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) oder der kürzlich reformierten Urheberrechtsrichtlinie mithalten.

Mit Vorgaben etwa zu personalisierter Werbung, Empfehlungssystemen und Rankings ziele die Initiative "auf den Kern des Geschäftsmodells der Aufmerksamkeits- und Überwachungsökonomie", unterstreicht Keber. Die Strukturen datengetriebener Monopolisten hätten sich teils zu tragenden Säulen im öffentlichen Diskursraum ausgewachsen. Damit korrespondiere Verantwortung, die sich nun etwa in verschärften Haftungsanforderungen ("Notice and Action") niederschlagen solle.

Die auch ins Spiel gebrachte erhöhte Transparenz etwa rund um Algorithmen bezeichnete der Professor als kein Allheilmittel. Wenn ein Monopolist einem sehr transparent ins Gesicht sage, welcher zweifelhaften Auswahlkriterien er sich bediene, beende wohl kaum einer sofort den geschäftlichen Kontakt. Dies gelte vor allem, wenn es keine vergleichbare Alternative gebe. Insgesamt wertet Keber den Vorschlag als "Abhängigkeitserklärung des Cyberspace", also als Gegenmodell zur berühmten Erklärung von 1996, mit der der Aktivist John Perry Barlow die Regierbarkeit des Internets durch staatliche Akteure zurückwies.

"Der neue Rechtsrahmen für digitale Dienste und Märkte ist eine eierlegende Wollmilchsau der Plattformregulierung", ordnete der Hamburger Medienforscher Matthias Kettemann den Ansatz ein. Dahinter stecke "ein um Transparenzpflichten, Algorithmenkontrolle und Werbeaufsicht erweitertes europäisches Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Es handle sich um einen soliden Entwurf, der das Zeug zum Exportschlager habe. Ein Manko sei, dass auch Irland als europäischer Sitzstaat von Konzernen wie Google oder Facebook eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Bestimmungen zukomme. Der Kölner Medienrechtler Rolf Schwartmann monierte, dass es "keine wirkungsvollen Maßnahmen zur Bekämpfung des sogenannten Overblocking" gebe. Das vorschnelle Löschen von Inhalten durch den faktischen Vorrang der willkürlichen Gemeinschaftsstandards sozialer Netzwerke werde nicht verhindert.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht stellte sich hinter den geplanten Digital Services Act (DSA): "Wir müssen die Demokratie vor den giftigen Wellen von Hass, Verschwörungserzählungen und Lügen schützen. In der größten Krise seit Jahrzehnten, die wir mit der Corona-Pandemie erleben, ist das von fundamentaler Bedeutung für unser Zusammenleben. Bei strafbarer Hetze brauchen wir europaweit verpflichtende Regeln für die Plattformen mit kurzen Reaktionsfristen – und in schweren Fällen auch Meldepflichten an die Strafverfolgungsbehörden." Die SPD-Politikerin kündigte an: In den anstehenden Verhandlungen im Ministerrat "werden wir prüfen, wie wir nachschärfen und gegebenenfalls weitere spezifische Regeln" andocken sollten.

Erfreut zeigte sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), dass die Kommission das europäische Wettbewerbsrecht modernisieren wolle und eine Verordnung für digitale Märkte (DMA) zur Diskussion stelle. Damit würden eine Reihe von systemrelevanten Akteuren einer spezifischen Aufsicht unterzogen. Hierzulande werde die geplante Reform des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen bereits Plattformen mit überragender marktübergreifender Bedeutung Verhaltenspflichten auferlegen. Die Bundesregierung werde sich im EU-Verfahren dafür einsetzen, dass sich nationale und europäische Regeln gut ergänzen.

Der Digitalverband Bitkom begrüßte, dass die Kommission sich mit dem DSA zu jenen Grundprinzipien des freien Internets bekenne, die sie vor 20 Jahren mit der E-Commerce-Richtlinie etabliert habe. Dies betreffe Haftungsprivilegien, das Verbot einer allgemeinen Überwachung und das Herkunftslandprinzip. Beim wichtigen Kampf gegen illegale Inhalte dürften unterschiedliche Plattformen aber nicht über einen regulatorischen Kamm geschoren werden. Sie sollten Instrumente wählen dürfen, die für sie am besten geeignet seien. Im Wettbewerbsrecht dürften neue Verbote oder Kontrollinstrumente nur greifen, wenn klares Marktversagen vorliege.

Von einem "ambitionierten Aufschlag, der die Komplexität des Themas und des digitalen Marktes angemessen abbildet, sprach der eco-Verband der Internetwirtschaft. Die Funktion der geplanten Koordinatoren für Online-Dienste wirkten aber überdimensioniert: "Eine Aufsichtsbehörde mit derart grenzenlosem Befugnisspielraum in Kombination mit einem solch massiven Strafrahmen könnte der Entwicklung des digitalen Marktes in der EU nachhaltig schaden." Der Verbraucherverband Beuc und die Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi) goutierten einen Schritt in die richtige Richtung, der aber noch keinen Ausbruch aus der Plattformwirtschaft ermögliche.

"Die größten Plattformen sind in den letzten Jahren immer größer geworden, ohne dabei auch besser zu werden", erklärte Andreas Schwab (CDU), Binnenmarktexperte der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament. Es sei höchste Zeit, sie mehr in die Pflicht zu nehmen. Der DSA biete die Chance, den Online-Handel in Europa endlich fair zu regulieren. Der EVP-Rechtsexperte Axel Voss ergänzte: Die geplanten Vorgaben müssten dazu beitragen, die Verbreitung illegaler Inhalte und Hass im Netz zu stoppen.

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Der Vorschlag sehe lediglich Transparenzauflagen für Online-Werbung vor, gab der SPD-Abgeordnete Tiemo Wölken zu bedenken. Das Parlament habe sich hier schon für ein graduelles Verbot personalisierter Werbung ausgesprochen. Solange Plattformen damit Geld verdienten, bevorzugten ihre Algorithmen reißerische Inhalte wie Fake News und Desinformation. Zudem könnten dem Plan nach die Betreiber selbst entscheiden, was illegal ist, und auch automatisch eine Löschentscheidung treffen. Dies dürfte zu Overblocking führen.

Die EU arbeite daran, "die Verfassung des Internets auf eine moderne Basis zu stellen", meinte der EU-Abgeordnete Moritz Körner (FDP). Alexandra Geese, Schattenberichterstatterin der europäischen Grünen, lobte den Anlauf der Kommission, "die Wildwest-Manier der großen Online-Plattformen zu beenden und sie zur Rechenschaft zu ziehen". Auch sie vermisst aber "ein Verbot von personalisierter Werbung und Tracking sowie wirkliche Interoperabilitätspflichten".

Ihr Fraktionskollege Patrick Breyer von der Piratenpartei monierte, der industrienahe Vorschlag lasse "das überwachungskapitalistische Geschäftsmodell des lückenlosen Ausspähens und Auswertens der Internetnutzung der Menschen unangetastet". Eine Gefahr für die Meinungsfreiheit seien neben Upload-Filtern "grenzüberschreitende Löschbefehle ohne richterliche Anordnung, mit denen autoritäre Regierungen ihre grundrechtswidrigen Zensurgesetze EU-weit anwenden könnten".

Die Lobbyschlacht dürfte nun weiter Fahrt aufnehmen. Google beklagte umgehend, die Vorschläge zielten offenbar "speziell auf eine Handvoll Unternehmen". Facebook stichelte gegen Apple und forderte den Einbezug des iPhone-Herstellers: Dieser kontrolliere ein ganzes Ökosystem vom Gerät bis zur App und missbrauche diese Macht, um Dritten zu schaden. Der Chef von GMX und Web.de, Jan Oetjen, würdigte, dass Wettbewerbsvorgaben künftig schon im Vorfeld von Missbrauch greifen sollten. Betriebssysteme, App-Stores und Browser würden von jedem Dienst benötigt und müssten neutral ausgerichtet sein. Hier gelte es auch, "endlich eigene europäische Alternativen aufzubauen".

Die Initiative LobbyControl warnte vor einseitiger Einflussnahme der US-Internetgrößen auf das weitere Gesetzgebungsverfahren. Diese würden "alle Hebel in Bewegung setzen, um zu verhindern, dass ihre Macht beschränkt wird". Ein Leak zeige, dass Google mit einer aggressiven Kampagne gegen die Initiative vorgehe. Dem Strategiepapier zufolge will sich der Konzern dafür starkmachen, die Regeln zumindest abzuschwächen, und Zweifel an Nutzen und Legitimität des Vorhabens säen. YouTuber etwa sollen gewarnt werden, dass der DSA ihre kreative Freiheit bedrohe.

(mho)