Vorwärts in die Vergangenheit: Fahrbericht von der Kawasaki W800
Das Retrobike mit authentischer Königswelle braucht keine optische Verrenkungen, ist inzwischen selbst ein Klassiker. Wie fährt die Kawasaki W800 in Neuauflage?
Inzwischen selbst ein Klassiker verweist die Kawasaki optisch in die 60er-Jahre, aber fahren lässt sie sich so unkompliziert wie jedes aktuelle Krad. Kräftiger als die Zahlen suggerieren und mit ausgewogenem Fahrwerk macht das auch richtig Spaß.
(Bild: iga)
- Ingo Gach
Nostalgiekräder wie die schon 1978 vorgestellte Yamaha SR 500 gab es zwar schon lange vorher, doch sicher hat Kawasaki mit der 1999 präsentierten W650 die heute so hoch schlagende Retro-Welle ein gutes Stück mit aufgetürmt. Dass dies nicht nur ein vorübergehender Trend ist, zeigt das Aufsehen, das der vermeintliche Oldtimer auch nach 22 Jahren auch ganz neu und mit Euro-5-Norm erzeugt. Doch ist die Kawasaki nur wegen ihrer Optik so beliebt? Wir glauben, kaum – und haben sie ausprobiert.
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Erste Erkenntnis: Wer mit der Kawasaki W800 unterwegs ist, muss viel Zeit für den Weg mit einrechnen. Nicht, weil das Retro-Bike so langsam wäre, sondern weil man ständig darauf angesprochen wird. Selten erhielt ich mit einem Motorrad soviel begeisterte Aufmerksamkeit von Passanten, Auto- und Motorradfahrern wie mit der nostalgischen Kawasaki. Auf die Frage nach dem Alter des Oldies blicke ich bei der Antwort "nagelneu" stets in verblüffte Gesichter.
Die letzte Königswelle
Mit ihrem luftgekühlten Paralleltwin, dem schwarzen Doppelschleifenrahmen, urigem Pea-shooter-Auspuff, polierten Drahtspeichenrädern, rundlichem Tank samt Knee-Pads, verchromten Schutzblechen und der dick gepolsterten Sitzbank sieht die Kawasaki authentisch nostalgisch aus, ohne wie die BMW R18 (Test) zu einer Karikatur ihres Vorbilds, der BMW R 5 zu werden.
Als Sahnehäubchen hat ihr Motor tatsächlich eine Königswelle und ist damit der letzte Motorradmotor, der damit gebaut wird. Früher galt die Königswelle, die mithilfe zweier Kegelradpaare Kurbel- und Nockenwelle verbindet, als drehzahlfeste und wartungsarme High-Tech-Lösung. Ducatis legendäre "L-Twin" Desmodromik-Motoren sind ein prominentes Beispiel, sie wurden von 1970 bis 77 mit Wellen gebaut und danach auf Zahnriemenantrieb umgestellt.
Kawasaki W800 (7 Bilder)

(Bild: Ingo Gach)
Die Königswelle ist teuer und findet daher heute im Motorenbau keine Verwendung mehr – außer in der W800, deren Nockenwellenantrieb sich stolz auf der rechten Seite am Zylinder emporreckt. Die Zylinder dahinter kommen ohne das übliche, unförmige Gehäuse für Steuerkette oder Zahnriemen erst so richtig schön zur Geltung. Dabei hatte ihr Vorbild, die Kawasaki W1, in den 1960er-Jahren gar keine Königswelle, aber wir wollen jetzt nicht kleinlich werden.
Bald durchgesessen
Die W800 hat die Proportionen der Vergangenheit behalten, deshalb sitze ich in nur 790 Millimeter Höhe über der Fahrbahn auf der Sitzbank mit dem weißen Keder. Der Tank ist nicht zu lang, der Lenker nicht zu hoch und die Sitzposition passt wie angegossen, Fahrer mit Gardemaß dürften sich über einen zu engen Kniewinkel beschweren. Leider ist das Polster recht weich und nach einer Stunde Fahrt durchgesessen.
Der große Rundscheinwerfer bietet nun LED-Licht – ein Zugeständnis an die Moderne. Auch auf den Kickstarter, den die W650 noch hatte, verzichtet die W800 schon längst zugunsten eines E-Starters. Der Paralleltwin springt selbst bei kalten Temperaturen sofort an und läuft rund, wenn auch zunächst mit leicht erhöhtem Standgas. Die Kupplung erfordert kaum Handkräfte und der erste Gang rastet anstandslos ein. Ein sonorer, gut gedämpfter Sound entweicht den beiden Auspufftöpfen, der die Nachbarn nicht belästigt, aber den Fahrer in Wohlklang hüllt.