Kommentar: Digitalisierung der Schulen – war da was?

Erst gab es einen Digitalisierungsschub, dann wurde der altbekannte Präsenzunterricht zur Maxime erhoben – für die Digitalisierung ergibt das ein Bremsmanöver.

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Kinder im Schulalter mit medizinischen Masken.

(Bild: David Tadevosian/shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Stellen Sie sich eine Rennstrecke mit einigen Rennautos vor. Jedes Auto steht für das Schulsystem eines Landes. Je weiter das Auto vorne liegt, desto weiter ist das Schulsystem in Sachen Digitalisierung gekommen.

Die Autos fahren jetzt schon einige Zeit fleißig ihre Runden, aber das deutsche Rennauto – das, was auch noch mit einiger Verzögerung stotternd gestartet ist – das wurde gerade wieder von der Rennstrecke gewunken, von seinem eigenen Team. Dieses Rennen fährt man gerade einfach nicht mehr mit.

So, oder so ähnlich stellt sich mir dar, was da vor dem Schuljahr 2021/2022 passiert ist und auch heute noch unablässig bekräftigt wird: Die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder haben die Schulen von der zügigen Digitalisierungsstraße gewunken. Denn während man im ersten Pandemiejahr noch von einem Digitalisierungsschub in den Schulen sprach, wurde jetzt wieder hart gebremst – der Präsenzunterricht geht nun wieder über alles.

In den Schulen sind zwar immer noch nicht flächendeckend Luftfilter eingebaut worden – die S3-Leitlinie ( PDF: "Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen" ), die eigentlich für Infektionsschutz in den Schulen ausgearbeitet wurde, wird auch kaum umgesetzt. Aber der Präsenzunterricht wird als so wichtig eingestuft, teilweise völlig abstrus zum Wonneort aller Jugend verklärt, dass jeder Mangel an Sicherheit oder Unterrichtsqualität mit Hinweis auf die Vorteile der Präsenz wegargumentiert wird.

Ein Kommentar von Kristina Beer

Kristina Beer schreibt und moderiert für heise online. Sie beschäftigt sich gerne mit der Frage, wie sich technischer Fortschritt auf Gesellschaft, Wirtschaft und politische Entscheidungen auswirkt.

Das Problem an der Sache? Da, wo nur Präsenzunterricht verlangt wird, da ist die Not auch nicht mehr groß, digitale Formate für den Unterricht weiter voranzubringen. Da ist digital unterstützter (Distanz)unterricht schlicht nicht mehr notwendig.

Ist das unzulässig verkürzt? Wurde die Digitalisierung der Schulen dadurch völlig gestoppt? Nein, natürlich fällt nicht alles in vordigitale Zeiten zurück. Im Kleinen geht es natürlich weiter. Aber da, wo Deutschland einen großen Aufholbedarf hat, da wird weiter der Wartestand bevorzugt.

Artikelserie "Schule digital II"

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Schulen umgesetzt werden? Wie beeinflusst die Coronavirus-Pandemie das Geschehen? Was wurde im Schuljahr 2020/2021 erreicht - wie ging es 2021/2022 weiter? Das möchte unsere Artikelserie beleuchten.

Blickt man zu den Schulen, dann haben sich tatsächlich mehr digitale Tools für die Schulorganisation etabliert. Die Kommunikation zwischen Elternhaus und Sekretariat verlagert sich nun eher mehr auf Mails als Papierhandreichungen. Die Lernplattformen werden regelmäßiger genutzt, um zumindest kurzzeitig erkrankten Kindern Aufgaben zukommen zu lassen. Schön. Das gefällt. Danke!

Aber der Einsatz von Technik im Unterricht, die Einbeziehung digitaler Mittel in den Unterricht ist – wie vor der Pandemie – wieder nur dort zu finden, wo Lehrkräfte ohnehin eine Affinität zu digitalen Lösungen zeigten. Und alles, was für den digitalen Distanzunterricht auch von einer breiteren Kollegenschaft erlernt werden musste, liegt jetzt wieder größtenteils brach.

Was nicht geübt wird, das kann auch nicht gelernt werden, heißt es häufig genug im Schulunterricht. Deshalb lautet meine These: Was von Kultusminister:innen nur als Werkzeug für den absoluten Katastrophenfall eingestuft wird, wird auch erst dann aus dem Schrank geholt, wenn nichts anderes mehr geht.

Nun mag man einwenden, dass der digital unterstützte Distanzunterricht aus den ersten Corona-Monaten für den Schulalltag ohne Pandemie ja generell nicht erstrebenswert sei, weil er kaum ausgereift war; eben aus der Not geboren. Aber das ist ein sehr dünnes Argument, da man ausklammert, welche Fähigkeiten und Erfahrungen auch in der Not erworben werden und wie diese weiterentwickelt werden können. Schule wurde im ersten Corona-Lockdown zum Versuchslabor, es lief nicht immer alles gut oder glatt, aber Schule entwickelte sich weiter.

Aber so, wie Kultusminister:innen in den vergangenen Monaten für den Präsenzunterricht und eine Rückkehr zur Vor-Corona-Normalität argumentiert haben, ist der Druck zum Weiterentwickeln aus dem System entwichen. Man setzt das Zeichen: Alles ist gut, denn alles klappt wieder wie vorher. Wir haben definiert, was das Beste ist, und das ist: Präsenzunterricht, wie (stets) gehabt. Das impliziert keinen Druck zur Veränderung. Da ist keine Not mehr zur Veränderung spürbar. Und wenn es nun weitergeht mit der Digitalisierung der Schulen, dann läuft das wohl auch eher "wie gehabt" und nicht wie eigentlich gewünscht. Es entsteht der Eindruck: Wir machen das jetzt wieder mit deutscher Wohlfühlgeschwindigkeit.

Man mag auch hier dagegenhalten: Wir vermeiden Fehlinvestitionen, wenn wir es jetzt nicht zu schnell angehen lassen. Wir überlegen genau, wie wir digitalisieren wollen, aber – Hallo? – haben die vergangenen Jahre nicht eindrücklich gezeigt, wie langsam ohne Druck in diesem Land vorgegangen wird? Die technische Entwicklung ist in vielen Bereichen immens, wo mag man sich dann im Digitalisierungsrennen der Schulen einfädeln?

Die Kultusminister und -ministerinnen der Bundesländer setzen für dieses Rennen die Botschaften und sie könnten verbindliche Standards für die Digitalisierung vorgeben, die ambitioniert und nicht im Endeffekt bestenfalls statuserhaltend sind. Denn was sie durch ihre Präsenzmaxime vergessen lassen: Die Digitalisierung der Schulen ist kein "Nice to have" oder ein grobes Werkzeug für den Notfall, sondern ein "Must have" – damit Schüler und Schülerinnen Kompetenzen erlangen, die sie für ihr Leben in einer digitalisierten Welt benötigen und auch Teilhabe für die Menschen möglich ist, für die Präsenzunterricht eine zu große Hürde oder gesundheitliche Gefahr darstellt.

Falls es doch wieder zu pandemiebedingten Schulschließungen mit Distanzlernen kommt, werden schnell erneut Schuldige gefunden sein: Die Lehrkräfte, die ohnehin schon – wie eierlegende Wollmilchsäue – nicht nur beispielsweise Geografie beibringen, sondern zugleich auch alle sozialen Probleme des Stadtteils lösen und den Schulcomputer zusammenschrauben sollen.

Die Lehrkräfte pflegen den engsten Kontakt zur betroffenen Schülerschaft und den Eltern – und die Lehrkräfte und Familien müssen dann wieder mit dem klarkommen, was ihnen kurzfristig aus den Schulministerien vorgegeben und erklärt wird. Wer die Lehrkräfte aber erneut nicht gut genug geschult oder ausgestattet hat, wer ihnen keine Zeit für Weiterbildungen eingeräumt oder auch klare Vorgaben zu Lehr- und Technikstandards gemacht hat, wer nicht ernsthaft die Teilhabe von benachteiligten Familien innerhalb und außerhalb der Pandemie im Schulwesen sicherstellt, kann weiterhin maßgebend und strukturell bremsen und gleichzeitig mit Unschuldsmiene dabeistehen.

Womit die Lehrkräfte arbeiten, was sie tun sollen und wie, das bestimmen vor allem Kultusministerinnen und Kultusminister. Und so, wie diese das Rennteam jetzt weiterfahren lassen, fahren sie nicht auf Sieg. Nein, sie lassen das Team wieder den Anschluss verpassen.

Artikelserie "Schule digital"

(kbe)