Hinter den Kulissen von Moia: So arbeitet der Ridepooling-Spezialist

Bei Moia teilen sich mehrere Personen mit individuellen Start- und Zielpunkten ein Fahrzeug. Machine Learning soll die Kundenwünsche unter einen Hut bringen.

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(Bild: Moia / Henning Scheffen)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Dirk Kunde
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Schon wieder Regen. Sobald in Hamburg die Tropfen fallen, schauen sich etliche Kunden nach den bequemen und vor allem trockenen Shuttle-Bussen von Moia um. "Wetter spielt eine Rolle, allerdings nur bedingt", sagt Dr. Rieke Dibbern. Sie ist verantwortlich für die dynamische Fahrpreisermittlung, das sogenannte Pricing beim Ridepooling-Spezialisten Moia.

c't kompakt
  • Moias Ridepooling-Dienst nutzt Machine Learning und setzt auf KI, um den Service weiterzuentwickeln.
  • Moia arbeitet intensiv an selbstfahrenden Robo-Shuttles, um den Dienst wirtschaftlich zu machen.
  • Testfahrten mit Robo-Shuttles laufen. Ob sie im Großstadtverkehr bestehen können, bleibt offen.

"Die Anfragen nehmen bei Regen zwar zu, doch die getätigten Buchungen steigen nicht im gleichen Ausmaß wie die Anfragen", berichtet sie bei unserem Ortstermin in der Moia-Zentrale in der Hamburger Innenstadt. Die Laufentfernung zum Abholpunkt beeinflusst die finale Kaufentscheidung, genau wie die geschätzte Abfahrtszeit, der Preis und die Dauer. Es sind viele Faktoren, die zu einer Buchung führen.

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Um den Bedarf an elektrifizierten Moia-Bussen besser abzuschätzen, errechnet das Unternehmen eine Nachfrage- sowie eine Buchungsvoraussage. Dabei kommen Methoden des Machine Learning zum Einsatz. Entscheidungen werden anhand vorgegebener Modelle gefällt, wobei einzelne Entscheidungsbäume bis zu 40 Dimensionen umfassen können. Am Ende steht eine dynamische Preisermittlung, die den Ausgleich zwischen Nachfrage und verfügbaren Plätzen in den Fahrzeugen schafft.

In den Büros an der Hamburger Stadthausbrücke arbeiten 200 Menschen. Davon sind rund 120 in der Software-Entwicklung tätig. Die einzelnen Teams sind nach Teilprodukten entlang der Kundenerfahrung aufgeteilt und nutzen unterschiedliche Tools und Programmiersprachen, ganz nach den jeweiligen Anforderungen.

"Wir setzen eine Self-contained Systemarchitektur (SCS) ein, weil es uns mehr Flexibilität in der Entwicklung bringt", sagt Sascha Meyer, Chief Product Officer bei Moia. Im Unterschied zu einer monolithischen Anwendung werden in der SCS alle benötigten Funktionen in voneinander unabhängige Systemen gepackt. Die Daten, die sie austauschen, liegen in Googles Protobuf-Format (Protocol Buffers) vor. Moia betreibt in der Zentrale keine eigene IT-Infrastruktur, sondern nutzt Managed Services großer Cloudanbieter wie Amazon.

Moia startete seinen Dienst in Hamburg im April 2019. Das Unternehmen definierte in seinem 320 Quadratkilometer großen Geschäftsgebiet 15.000 Haltestellen. Das sind Punkte, die grundsätzlich frei sind, an denen die Straßenverkehrsordnung Halten erlaubt und ein sicheres Ein- und Aussteigen der Fahrgäste möglich ist. Ein Kunde soll von seinem aktuellen Standort nicht mehr als 300 Meter Fußweg zum Haltepunkt haben. Denn genau diese Entfernung spielt nach Erfahrungen von Moia bei der Buchungsentscheidung eine wesentliche Rolle.

Im Februar 2022 transportierten 600 Fahrer in Hamburg 149.000 Fahrgäste durch die Stadt. Dabei waren 60 Prozent der Fahrten mit mindestens zwei Buchungsparteien besetzt, das sogenannte Pooling. Die Fahrgastzahl spiegelt nach Angaben des Unternehmens noch immer eine pandemiebedingte Zurückhaltung wider.

"Wir verzeichnen weniger Fahrten von Beratern, die vom Flughafen in die Innenstadt möchten, von Anwälten, die zu Gericht fahren und anderen Geschäftsleuten, die zu Terminen unterwegs sind", sagt Meyer. Gelegentlich setzt er sich selbst ans Steuer eines der kupferfarbenen E-Fahrzeuge, um Moia aus Sicht des Fahrpersonals zu erleben.

Zum Vergleich: Im Februar 2020 lag die Passagierzahl vor Corona bei 270.000. Wegen der Pandemie schränkte Moia zwischen dem 1. April 2020 und 1. Juni 2021 seinen Betrieb ein. Zeitweise waren einige Fahrzeuge ausschließlich nachts unterwegs. Statt der vorhandenen 500 Elektrofahrzeuge sind derzeit um die 225 im Einsatz. Auch das Geschäftsgebiet wurde im Zuge der Pandemie von 320 auf 200 Quadratkilometer verkleinert.

Blick auf das Dashboard des Moia-Leitstandes für Hamburg: Aktuell sind 127 Busse im Geschäftsgebiet unterwegs. Davon sind 125 für Kunden buchbar (grüne Punkte). Die Fahrzeugnummern mit schwarzer Flagge befinden sich im Rebalancing. Sie verlassen ihren aktuellen Standort, um in Stadtteile zu fahren, in denen die Buchungsvorhersage höher ausfällt. Für Fahrzeug 78 liegt eine Warnung vor, die sich der Service-Agent anschauen muss.

(Bild: Moia)

Innerhalb des definierten Geschäftsgebietes optimiert das System spätestens alle zehn Sekunden die Auftragsvergabe. Welcher Wagen ist am nächsten zum Kunden? Welcher kann noch Fahrgäste aufnehmen? Wer fährt zum gleichen Ziel? Dabei ist die Berechnung der Nachfragevorhersage in drei Phasen unterteilt.

Für die langfristige Vorhersage nutzt das System Erfahrungswerte aus den Vorjahren. Zum Beispiel fällt die Nachfrage in den Sommerferien geringer aus als im Herbst und Winter. Auch für den Verlauf einer typischen Woche kennt man die Entwicklung: Die Nachfrage steigt von Montag bis Freitag kontinuierlich an. Am Wochenende und vor Feiertagen ist am meisten los.

Der mittelfristige Teil der Vorhersage berücksichtigt die zwei bis vier Stunden vor der eigentlichen Fahrt. Hier fließen Daten über Wetter, Messen sowie andere Großveranstaltungen und planbare Verkehrsbehinderungen etwa durch Baustellen ein. Die dritte, kurzfristige Vorhersage agiert im Minutenbereich. Hier werden die Daten der beiden vorherigen Phasen mit allen verfügbaren Echtzeitinformationen, etwa aktuellen Verkehrsinformationen oder Rückmeldungen von Fahrern, abgeglichen.

Aufgrund der dynamischen Nachfragevorhersage verteilt das System die Fahrzeuge im Geschäftsgebiet laufend neu. Beispielsweise fahren in den Feierabendstunden etliche Menschen aus der Innenstadt in die Randbezirke. Um einen örtlichen Mangel von Fahrzeugen zu vermeiden, greift das System zum sogenannten Rebalancing. Die Fahrer erhalten auf Basis der Prognosen den Auftrag, in Gebiete zu fahren, in denen die Nachfragevorhersage höher ausfällt. "Die Kombination aus Nachfrage- und Buchungsvorhersage liefert uns ein sehr präzises Bild für die Flottenplanung", sagt Meyer.

Ein Problem bleiben plötzlich auftretende Schwankungen bei der Nachfrage. Darauf kann Moia nur bedingt reagieren, weil eigentlich spontan zusätzliche Fahrer auf die Straße müssten. "Doch die Schichtpläne für unsere Fahrer entstehen mit dreimonatigem Vorlauf. Die möchten natürlich eine gewisse Planungssicherheit", so Meyer.

Mit Hilfe mathematischer Modelle erstellt das Moia-System ein Abbild der Zukunft und trifft Annahmen über Anzahl und Ort nachgefragter Fahrten im Geschäftsgebiet. Als Grundlage nutzt es Erfahrungswerte, Wetterdaten, Infos zu Veranstaltungen in der Stadt sowie aktuelle Verkehrsdaten. Der dynamische Fahrpreis sorgt für den Ausgleich zwischen Fahrzeugangebot und Nachfrage.