Außenleiter

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Das ineffiziente Umlenkgetriebe an sich ist ja rein nüchtern funktional betrachtet genauso sinnlos wie der längs liegende Motor. Aber wenn es nur rein nüchtern funktional betrachtende Kunden gäbe, hätte Harley vor 50 Jahren schon den Laden dichtmachen müssen. Harleys leben von der großen Geste, der Präsentation. Deshalb fand ich die Street 750 so schlecht. Und deshalb finde ich diese neue, elektrische Harley so gut. Ausgerechnet Milwaukee zeigt den ersten gut aussehenden Roadster mit batterieelektrischem Antrieb. Dagegen schaut die Konkurrenz von Zero oder Brammo aus wie aus dem Kaugummiautomaten.

Ein Baumstamm voller Lithium

Die Geometrie erinnert mich an die Baumstamm-Konfiguration der Moto Guzzi Griso, nur mit 18-Zoll-Vorderrad, flacherem Lenkkopfwinkel und noch viel störrischerem Heck über dem breiten Hinterradholzreifen. Entweder hat Harley dieses Fahrzeug für Menschen mit mindestens 40 kg mehr Masse als ich abgestimmt (sehr wahrscheinlich) oder für später eben doch deutlich größere Akkus vorgesehen (wahrscheinlich) oder sie müssen daran noch etwas feilen (sehr wahrscheinlich) oder alles drei (höchst wahrscheinlich). Die Livewire lenkt störrisch ein, die Balance von vorne zu hinten wirkt unausgewogen, das Hinterrad springt selbst unter dem Mehr an Anpressdruck in Schräglage unter meinem Gewicht (65 kg) weg. Viel nacharbeiten würde ich hier gar nicht mehr. Die Kundschaft mag es, einem störrischen Balken den eigenen Willen zu diktieren. Aus der mageren Reichweite will Harley das maximale Erlebnis holen, und beim jetzigen Stand der Technik steht dieser Firma überhaupt kein anderer sinnvoller Weg offen.

Dazu kommt, dass Harley-Fahrer in Deutschland sowieso selten weit reisen. In den USA verkauft H-D hauptsächlich die großen Toureneimer, auf denen die Eisenärsche 1000 Meilen am Tag abreißen, wenn es sie packt. Bei uns dagegen lieben die Kunden die Dyna- und Softail-Modelle, mit erstaunlich vielen Studenten unter den Sportster-Fahrern. Ähnlich sieht es anderswo in Europa aus. Das ist genau die Zielgruppe, die mit einer Livewire gut bedient wäre. Zur Uni fahren, Kommunikationsdesignskurse besuchen. Zur Club-Party fahren. Kleine Sonntagnachmittagsrunde. Sowas. Danach: zuhause an den Strom klinken wie das iPhone auch, fertig. Die Livewire bietet sich dieser klassischen Kundschaft an und öffnet sich gleichzeitig einer neuen, die einen erstaunlich leichten, elektrischen Roadster aus Milwaukee total cool findet. Kein Elektro-Roadster hat so viel Wind gemacht wie dieser, weil kein Elektro-Roadster-Hersteller bisher sich damit befasst hat, dass diese Coolness heute von ihm erwartet werden könnte. Ducati Scrambler. BMW Ninette. Harley Livewire. Ich sehe keinen Bruch in dieser Folge.

Natürlich konnten wir auch auf dieser E-Motorrad-Präsentation nur wenige Kilometer herumgurken. Der ölgekühlte Motor surrt. Die Leistungselektronik rauscht. Der Lüfter am Radiator ihrer Wasserkühlung bläst. Das Umlenkgetriebe schreit alles nieder. Und ich sitze über den Akkudeckel gespannt und bin zufrieden damit, den Baumstamm in die Ecken zu ringen. Ja, ein ABS müssen sie noch bauen, eine Traktionskontrolle, den Touchscreen-Tacho fertigstellen. Aber wenn so eine Harley in einigen Jahren wirklich kommt, kann sie in ihrer grundsätzlichen Art, ihrem Charakter, genau so bleiben. Perfekte Präsentation, kantige Fahrweise. Ich fahre dann eine zur nächsten Rocker-Party auf den Harley-only-Parkplatz, nur um die Gesichtszuckungen der Altherren zu sehen. (cgl)