Über den Porsche 911, seine merkwürdige Gewichtsverteilung und den Reifenanpressdruck

Fat bottomed high-maintenance Girls

Ohne Anpressdruck kein Grip, deshalb ist die Relation von Gewichtsverteilung zu Reifenbreite auch so essenziell. Die besten, weil anschaulichsten Beispiele sind immer auch die extremsten, deswegen gehen wir mit dem Porsche 911 auf die Nordschleife

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Ohne Anpressdruck kein Grip, deshalb ist die Relation von Gewichtsverteilung zu Reifenbreite auch so essenziell. Die besten, weil anschaulichsten Beispiele sind immer auch die extremsten, also beleuchten wir den Problemkreis anhand der heute einzigartig seltsamen Konfiguration des Porsche 911 auf der einzigartig seltsamen Nordschleife.

Stuttgart, 30. Oktober 2012 – Der Porsche 911 mit seinem Heckmotor hinter der Hinterachse ist ein Freak, ein Quastenflosser, ein Relikt der Fahrzeugevolution. Das macht ihn so wunderbar. Es gibt mehr Käferarten als Mäuse auf der Welt, aber ein Quastenflosser wird immer etwas Besonderes bleiben. Heckmotoren in Großserien-Pkw gibt es sonst nicht. Es wird sie wohl auch nicht mehr geben, obwohl es dereinst im automobilen Kambrium viele zumutbar grausliche Modelle verschiedenster Hersteller gab. Wenn jedoch heute ein Ingenieur in der Planungsphase sagte "Ich habs! Lasst uns den Motor hinten in den Kofferraum bauen, wo wir alle möglichen Probleme mit Kühlung, Heizung und Gewichtsverteilung lösen müssen! Und damit's nicht zu einfach wird, lasst uns einen Sechszylinderboxer nehmen!", dann würde ihn sein Chef ganz schnell nach Hause schicken, mit dem Auftrag, das Fieber auszukurieren.

Der 911 hat nur bis heute überleben können, indem jede neue Generation direkten ästhetischen Bezug auf die ersten ihrer Art nehmen kann. Er hat seine eigene evolutionäre Nische geschaffen. Deshalb sehen auch alle 911 so gleich aus. Ohne diese extreme Vorsicht hätte es das Konzept vielleicht nicht bis 2012 geschafft. Porsche weiß das sehr genau; es ist der Grund für ihre geradezu pathologische Angst vor Neugestaltung. Selbst die Porsche-Variante des VW Touareg und ihr Standardantrieb-Viersitzer kriegen mit erschreckend brutaler Gewalt die Haut der 911er übergezogen, obwohl Kinder beim Anblick dieser ästhetischen Gewalttaten weinen müssen. Der Erfolg gibt Porsche recht: Der 911 ist außer einzigartig in seiner jetzigen Ausbaustufe auch verblüffend gut: Wie bei Audi gaben Porsches Entwickler keine Ruhe, bis ihr prekäres Konzept nicht nur genauso gut funktionierte wie das Normale, sondern sie tüftelten so viele Nachtschichten, bis es *besser* funktionierte – aus reinem Trotz. German Engineering at its best.

Macht das meinen Arsch fett?

Das Besondere, Interessante, Froschhafte an der Optik des 911ers entsteht aus seinem Ungleichgewicht: der leichten Front genügen vorne viel dünnere Reifen als hinten, wo der Motor mit aller Schwerkraft andrückt, die viel breiteren Reifen also mehr Kraft übertragen können. Begeben wir uns hierzu ins Abenteuerland der Physik. Ein Gummireifen verzahnt sich durch Druck mit der Fahrbahnoberfläche. Diese Verzahnung folgt wie die meisten wirklich interessanten Dinge *nicht* den Erwartungen des gesunden Menschenverstands. So gibt es zum Beispiel einen Bereich sehr geringen Drucks, in dem bestimmte Kombinationen von Gummihärte mit Anpressdruck zu wenig verzahnen. Es ist daher für Laien durchaus möglich, mit zu breiten, zu harten Reifen ein gefährlich Grip-loses Auto zu basteln.

Auf diesen Bereich folgt ein weiter Raum, in dem sich mit steigendem Druck praktisch nichts ändert. Beliebtes Wett-Beispiel: Wie ändert sich der Bremsweg eines Motorrads, wenn eine zweite Person mit draufsitzt? Antwort: Je nach Geometrie bleibt er gleich oder wird kürzer. Höheres Gewicht heißt mehr Anpressdruck, mehr Anpressdruck heißt mehr Verzahnung, mehr Verzahnung überträgt höhere Kräfte. Deshalb bleibt der Bremsweg auf geometrisch langweiligen Motorrädern gleich. Auf handlichen Motorrädern verkürzt er sich, weil Beifahrer hinten gut gegen den Überschlag nach vorne sind. Beim Auto gilt die selbe Physik. Dem Toyota GT86 genügen vergleichsweise schmale Reifen, weil die Originalmischung recht hart ist und das Gewicht pro Reifen vergleichsweise gering. Und der 911 hat hinten, unter dem Anpressdruck des Motors, seine breiten, weichen Walzen.

Jung und dynamisch

Wie das Beispiel Motorrad bereits gezeigt hat, ist die statische Last der Reifen jedoch ein für sportliches Fahren irrelevant seltener Fall. Spannend wird die dynamische Last, die Gewichtsverlagerung des Fahrzeugs auf seinen Federn nach vorne, hinten, links, rechts oder meistens in eine Mischung von mehreren. Ein Wagen, der in seiner Nulllage sehr ausgewogen im Wortsinn ist, hat hier gute Karten. Deshalb fährt ein Nissan GTR so gut. Alte 911er dagegen konnten regelrecht zickig werden. Nur ein Beispiel: Lift-off Oversteer, wie man in England oder dem Internet sagt. Kurveneingang. Der Fahrer geht vom Gas. Durch die Motorbremse verlagert sich das Gewicht nach vorne außen. Die hinteren Reifen verlieren Anpressdruck. Der weit abstehende Motor zieht wie ein Senkblei. Das Heck kommt herum und möchte außen überholen. Viele Besitzer dieser alten Porsches fuhren daher einen fast schon Motorrad-artigen Kurvenstil, weil der dem Heckantrieb zuspielte: immer schön auf Zug durch die Ecken. Sie wurden belohnt mit dem großen Vorteil des 911-Konzepts, der schier unglaublichen Hinterrachstraktion. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wieso es 911er mit Allradantrieb gibt.