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Kommentar: Stadt, Land, Stuss II

Das Auto war unser Goldenes Kalb. Es wurde über die Maßen angebetet und ihm wurden andere Mobilitätsmöglichkeiten untertan gemacht. Jetzt gibt es einen Backlash. In den Lösungsansätzen dominiert die Sicht der Metropolen. Aber ist das Auto wirklich ein Problem an sich?

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Es ist soweit: Meine Frau wurde von Stuttgart nach Tauberbischofsheim versetzt. Wir wohnen jetzt im idyllischen Tauberfranken, wo die badische in die fränkische Küche übergeht. Ich tippe diese Zeichen umringt von Hummeln, das ferne Brummen eines ATV im Ohr. Unter dem Laptop liegen die Planskizzen zur Baumbepflanzung des großen Grundstücks. Auf dem Smartphone-Display steht „kein Netz“. Ich lese über Vorschläge zur Verkehrswende. Fahrradwege in Frankfurt. Autofreie „Superblocks“ in Barcelona. Elektrische Öffi-Gefäße. Kaum etwas hat überhaupt Bezug zum Landleben, als ob die Menschen dort egal wären, oder vernachlässigbar in ihrer Anzahl. Sind sie aber nicht.

Die verdammten Statistiken schon wieder

Statistiken zeigen bis über 70 Prozent der deutschen Bevölkerung in Städten. Das tun sie, weil sie alle kleinen Städte mit einbeziehen. Wenn die kleine Stadt als Vorort einer Metropole existiert, liegt dieser Schluss nahe genug. In Teltow, Dachau oder Remseck am Neckar fühlt der Bürger noch den Puls der dazugehörigen Metropole, kann noch von deren Infrastruktur profitieren. Folglich erleben diese Orte ein Wachstum durch die anhaltende Urbanisierung. Orte jedoch, denen dieser Anschluss fehlt, verlieren wie die Dörfer im Schnitt an arbeitender Bevölkerung, und es gelten andere Gesetze der Mobilität. Das Leben dort hat mehr Ähnlichkeiten mit dem Dorf als mit dem in einer Metropole.

Eine differenziertere Ansicht liefert die Dreiteilung von Daten aus 2017, die „Die Zeit“ vornahm. Danach lebten 2017 27 Prozent der Deutschen in Gemeinden von 5000 bis 20.000 Einwohnern, 27 Prozent in Orten von 20.001 bis 100.000 Einwohnern und 31 Prozent in Großstädten über 100.000 Einwohner Bevölkerung. Man kann den statistischen Kuchen also auf verschiedene Weise schneiden, um zu verschiedenen Erkenntnissen zu gelangen.

Eine Erkenntnis bleibt dabei jedoch konstant: Ein relevanter Anteil der Bevölkerung Deutschlands lebt in Dörfern und kleinen bis mittleren Städten. Ihre Bedürfnisse unterscheiden sich signifikant von jenen der Großstädter, und der größte Unterschied dürfte in der Mobilität liegen, weil die durchschnittlichen Distanzen größer sind.

Spiel mir das Lied vom Diesel

Auf dem Land leben heißt: mehr selber besitzen und betreiben, vom Auto über die Stromerzeugung bis zum Obstanbau. Das geschieht in einem Kontinuum, denn natürlich braucht man in Downtown Tauberbischofsheim weniger oft eine einzelne eigene Heizung oder Solaranlage als draußen im Teilort. Doch ein eigenes Auto hat fast jede arbeitsfähige Einzelperson. Der Impact des Autofahrens ist so hoch, dass Landbewohner im Schnitt häufiger unter Zivilisationskrankheiten leiden als Städter, weil sie zusätzlich zu Büro und Wohnung so viel im Auto herumsitzen.

Das ist umso erstaunlicher, als Landkinder sich überdurchschnittlich viel bewegen bei typischen Hobbys wie Fußballverein oder Gardetanz und die Rentner gerade die Zigarette gegen das Fahrrad eintauschen, mit dem sie zu den Wirtshäusern schweifen. Das Herumsitzen im Auto resultiert aus jahrzehntealten politischen Arbeitsmarkt-Forderungen, die der deutsche Angestellte/Arbeiter umgesetzt hat: „Seid flexibel! Seid mobil!“

Traktion in Politik und Gesellschaft

Jetzt erhält der Lebensraumschutz endlich Traktion in Politik und Gesellschaft. Die Forderung nach einem autofreien Deutschland klingt in Hannover so einleuchtend wie sie in Elend und Sorge (gehören zu Benneckenstein im Harz) absurd erscheint. Das Elektroauto verbessert die Lage, wenn man es Neuwagen gegen Neuwagen vergleicht. Nur kauft in Deutschland eben kaum ein Privatkunde Neuwagen. Der weitaus größte Teil der Verkäufe geht in den Flottenbetrieb und erreicht als junge Gebrauchte die erste Schicht Privatkunden.