Autonome Züge: einfacher als im Straßenverkehr​

Wirklich autonome Fahrzeuge auf Asphalt zu entwickeln ist ein dickes Brett. In manchen Bereichen der Schiene dagegen sind autonome Fahrten längst im Einsatz.​

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Nicht nur bei Kindern beliebt: durch die Frontscheibe des automatisch fahrenden Zuges schauen.

(Bild: VAG – Claus Felix)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Kürzlich warfen wir einen Blick in den Rückspiegel und betrachteten über 20 Jahre Entwicklung bei autonomen Autos. Dabei ließen wir noch einmal über zehn Jahre vorangegangene Forschung im Projekt Prometheus weg, bei dem ab 1994 volle Fahrautomatisierung mit Kamerasystemen erprobt wurde. Der lange Zeitraum und die heutige Realität, in der ein menschenbedientes Taxi immer noch wesentlich günstiger fährt als das teure Robo-Auto, zeigt die Schwierigkeit der Aufgaben. Im freien Straßenverkehr gibt es einfach zu viele Bewegungsmöglichkeiten. Im Schienenverkehr dagegen lässt sich die Komplexität auf ein handhabbares Niveau reduzieren. Deshalb gibt es schon seit den Achtzigerjahren in Japan voll automatisierte Zuglinien im Nahverkehr. Ein regelrechter weltweiter Boom begann um die Jahrtausendwende. Heute betreiben weltweit 47 Städte autonome Zuglinien. In Deutschland kam 2008 in Nürnberg die erste fahrerlose U-Bahn. Ihr Beispiel zeigt gleich mehrere Aspekte, die weit über "ich kann eine bezahlte Person weglassen" hinausgehen.

Die Taktung der Züge konnte durch Automatisierung erheblich verbessert werden.

(Bild: VAG Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg)

Die Linie U3 in Nürnberg konnte nur entstehen, weil sie sich einen Streckenabschnitt mit der bestehenden Linie U2 teilt. Hätte man das mit menschlichem Fahren gelöst, hätte die Taktrate auf der U2 sinken müssen, um die nötigen Sicherheitsabstände einzuhalten. Das wollten die Planer vermeiden. Mit dieser Einschränkung blieb als einzige Lösung die Automatisierung beider Linien. Das umgesetzte System taktet mit 100 Sekunden pro Zug. Das ergibt im Vergleich zu menschlicher Steuerung den doppelten Durchsatz. Das Fahrerhaus bleibt bei diesen Zügen leer. Bei außergewöhnlichen Störungen greift der Mensch über die Leitstelle ein. Das sind zum Beispiel medizinische Notfälle, Notstopps und das manuelle Entsperren einzelner Türen, wenn der Computer keine sichere Schaltschwelle sieht, die Leitzentrale aber schon. Fahren, Abbremsen, Weichenstellung, Signalschaltung und Türsteuerung laufen automatisch. Diesem Beispiel folgt aktuell Frankfurt, und Hamburg plant autonome Nahverkehrslinien. Zusätzlich werden gerade schrittweise die Rangierhöfe automatisiert, in denen die Fahrzeuge außerhalb ihrer Nutzungszeiten stehen.

Wir sprachen mit Fachleuten vom Hersteller des Systems: Siemens Mobility. Siemens Mobility baut nicht nur Züge, sondern entwickelt auch Leit- und Sicherungstechnik für die Automatisierung und Digitalisierung der Schieneninfrastruktur und Fahrzeuge. Die hat nämlich eine ganze Reihe Vorteile, die nicht alle gleich offensichtlich sind.

Verringerte Zugabstände / höhere Taktung:
Die Betreiber können damit bestehende Infrastruktur bis zu 30 Prozent besser ausnutzen, statt neue Gleise bauen zu müssen. In Kopenhagen etwa sank der Zugabstand von 120 auf 90 Sekunden auf derselben Linie. Oft ist es auch schwer bis gar nicht möglich, neue Gleise zu bauen. Das betrifft zum Beispiel einige Gebiete in der bergigen Schweiz. Dann bleibt nur Automatisierung, wenn der Durchsatz steigen soll.

Bahnhof Kopenhagen. Die Taktung der automatisierten Strecke konnte von 90 auf 120 s reduziert werden.

(Bild: Siemens Mobility)

Optimale Effizienz:
Automatische Züge schaffen signifikante Energieeinsparungen im Bereich von 30 Prozent. Das erreichen sie durch exaktes Einhalten ihrer Taktpläne, bei dem immer nur so viel beschleunigt und gebremst wird, wie zur Takterfüllung nötig. Menschen müssen schätzen. Der Computer hat die Echtzeitdaten. Das System bremst und beschleunigt die Züge überdies in einer Genauigkeit, wie es ein Mensch nicht kann. Dazu kommt eine Entlastung der Stromleitungen: Ein anfahrender Zug zieht sehr hohe Startströme. Eine Automatisierung legt deshalb zurückgespeisten Bremsstrom eines Zuges und Beschleunigung eines anderen Zuges zusammen, sodass im Großteil des Systems Lastspitzen vermieden werden können.

Gleichmäßigeres Fahren:
Sanfte, punktgenaue Beschleunigungen und Bremsungen erhöhen den Komfort und verringern Lärm, Energiebedarf und die mechanische Belastung aller Systeme.

Flexibilität:
Das Steuersystem kann automatisch die Auslastung ermitteln und daraus Vorschläge für die statistisch optimale Taktung generieren. Daraus könnten entweder optimierte Fahrpläne entstehen oder – weiter in die Zukunft gedacht – ein komplett atmend flexibles System.

Kosten sinken:
Alle obigen Punkte können die Kosten senken. Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass Bahn-Infrastruktur recht teuer ist und daher stetig vom Staat gestützt wird. Wenn bessere Technik die Kosten senken kann, ist das also für alle Steuerzahler besser, nicht nur für die Nutzer der Schienen. Um Deutschlands Klimaziele zu erreichen, birgt eine derart durchdigitalisierte Bahn zudem erhebliches Potenzial, weil der Schienenverkehr im Vergleich zu Straße, Wasser oder Luft wesentlich energieeffizienter arbeitet.

Hamburg: Unter dem Motto "Digitale Schiene 2.0" werden Strecken automatisiert.

(Bild: Siemens Mobility)

"Die Frage ist immer: Was ist die Alternative?", sagt Andre Rodenbeck, Chef der Infrastruktur-Sparte bei Siemens Mobility. "Die Politik macht Vorgaben für den Verkehrssektor, und dann müssen die besten Lösungen her, diese Vorgaben zu erreichen. Wenn man mehr Fahrgäste auf die Schiene bekommen möchte, erreicht man das am kostengünstigsten und effektivsten durch mehr Digitalisierung: Automatisierungstechnik, Vernetzung, Echtzeit-Informationen, ein insgesamt einfaches und gutes Erlebnis des Schienenverkehrs für alle Fahrgäste. Daran hapert es bisher. Aber es herrscht Aufbruchsstimmung und die Zeichen stehen gut. Zum ersten Mal erhält zum Beispiel die Schieneninfrastruktur im Bundeshaushalt mehr Gelder als die Straße."

Siemens Mobility teilte im Hintergrundgespräch die Einsatzgebiete von Zugautomatisierungstechnik auf in Nah- und Fernverkehr und auf die Zugautomatisierungslevels (Grade of Automation, GoA) 2 und 4, weil das die Levels mit dem aktuell höchsten Praxisbezug sind. Im GoA4 fährt der Zug vollautomatisch, es muss kein Fahrpersonal an Bord sein. Im GoA2 übernimmt Software die normalen Fahraufgaben von Start bis Stopp. Der Triebfahrzeugführer kümmert sich um die Türen, leitet den Start ein und überwacht die Fahrt auf Unvorhergesehenes.

Schemadarstellung des Nürnberger Systems am Bahnsteig. Da beim Zustieg der Mensch auf die Schienen kommen könnte, wird hier mehrfach redundant überwacht, automatisiert und mit menschlichen Augen in den Leitstellen.

(Bild: VAG Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg)

Gleisstrecken im städtischen U-Bahn-Betrieb lassen sich oft derart gut sichern, dass mit vergleichsweise geringem technischem Aufwand eine sehr hohe Sicherheit hergestellt werden kann. In diesem Umfeld gibt es daher bereits einige GoA4-Systeme, ähnlich des Eingangs-Beispiels in Nürnberg. Im Fernverkehr sind die Strecken aber zu lang und zu komplex, um sie überall ständig zu überwachen. Ein System auf GoA4 im Fernverkehr braucht zum Beispiel eine Hinderniserkennung. Auf Hochgeschwindigkeitstrassen müsste sie sehr weit vorausschauen. "Für Level 4 müssen wir die Augen des Triebfahrzeugführers durch Technik ersetzen", sagt Dr. Ireneus Suwalski, der bei Siemens Mobility für Automatisierungstechnik verantwortlich ist. "Nehmen wir an, ein Auto steckt an einem Bahnübergang fest oder es passiert plötzlich eine andere unvorhergesehene Situation. In Berlin hat einmal jemand von einer Brücke einen Einkaufswagen auf die Strecke geworfen. Darauf muss man reagieren können."

Eine richtig gute Lösung ist noch nicht absehbar, obwohl die Technik sich stetig verbessert. "Beim Auto reicht es, 200 m voraus zu überwachen", sagt Dr. Suwalski. "Im Zug müsste man auf schnellen Strecken jedoch sehr viel weiter vorausschauen können, um eine sinnvolle Reaktion einleiten zu können.“

Der Mensch kann allerdings ebenfalls nicht auf Kilometer weit voraus ein Hindernis erkennen und vor ihm zum Stillstand bremsen. "Genau", bestätigt Suwalski. "Ein Mensch kann zwar bei guter Sicht auf größere Distanz als aktuelle Sensoren ein Signal oder Hindernis erkennen, es ist aber trotzdem im Hochgeschwindigkeits-Zugbetrieb so: Ein Triebfahrzeugführer unterstützt von Automatisierungstechnik hat hier noch die besseren Optionen zu reagieren und agieren. Selbst wenn eine Maschine es in Zukunft besser könnte als der Mensch, und ich glaube, dass wir da technisch hinkommen werden, stellt sich allerdings eine gesellschaftliche Frage: Wollen wir Maschinen erlauben, diese Verantwortung zu übernehmen?" Aus diesen Gründen setzt sich aktuell im Fernverkehr GoA2 als gute Lösung durch: Die Software übernimmt die Grundaufgaben und optimiert diese, wie es nur ein Computer kann. Der Mensch übernimmt die Verantwortung für die Sicherheit und alle Arbeiten, für die ein übergeordneter Kontext relevant wird, was schon bei der Türsteuerung beginnen kann.

Siemens-Balise in Norwegen. Über diese Kästchen im oder am Gleisbett wird kommuniziert und Sicherheit geschaffen, zum Beispiel durch automatische Zählung der Achsen.

(Bild: Siemens Mobility)

Höhere Automatisierungslevel bedeuten eine massive Aufrüstung der Technik an den Strecken, in den Leitstellen und den Triebwagen. Die Basis für internationale Interoperabilität bildet dabei das European Train Control System ETCS. ETCS wird in den Leitstellen installiert, aber auch als zusätzliche, hoch ausfallsichere Recheneinheit in den Triebwagen und soll langfristig den Wildwuchs bisheriger Zugbeeinflussungssysteme einheitlich ersetzen. Kommuniziert wird per Digitalfunk über den GSM-Ableger GSM-R (R für "Rail"). ETCS gehört zu den Grundsteinen der Schieneninfrastruktur-Digitalisierung Europas und bietet zudem eine solide Grundlage, um darauf weitergehende Automatisierung zu setzen. Diese "Automated Train Operation" (ATO) passiert aus Gründen der Sicherheit und Redundanz in weiteren, separaten Rechnern.

ETCS und Automatisierung laufen parallel, was zu höherer Redundanz und mehr Flexibilität führt, zum Beispiel im Mischbetrieb unterschiedlich ausgestatteter Fahrzeuge.

(Bild: Siemens Mobility)

Dr. Suwalski erklärt: "Ein automatisiertes System auf GoA2 entlastet den Fahrer durch Automatisierung ETCS überwacht die Fahrt und steigert dadurch noch einmal die Sicherheit des Systems." Die zusätzlichen ATO-Systeme bestehen ähnlich wie bei der ETCS-Ausrüstung nur aus Rechnern und Kommunikationstechnik, in diesem Fall meistens ein 4G-Funknetzwerk. Zusätzliche Sensoren kommen erst ab GoA3 zum Einsatz. Auf diesem Level arbeitet der Mensch nur noch als Überwacher, das System soll den Großteil der Aufgaben alleine abdecken. Dazu sind jedoch beim aktuellen Stand der Technik noch komplett kontrollierbare Fahrwege nötig. Der freie Fernverkehr wird daher noch lange Zeit Menschen im Führerhaus benötigen.

Die aktuellen Umrüstungen auf ETCS, die Automatisierung auf GoA2 im Fernverkehr und auf GoA4 auf entsprechend sicherbaren Nahverkehrsstrecken und die dazugehörige digitale Infrastruktur sind die großen aktuellen Entwicklungen der Schienenverkehrs-Automatisierung. Ein vollautomatischer Fernverkehrs-Zug (GoA4) bietet in diesem Umfeld aktuell weniger Vorteile, als man meint. Schwierig sind vor allem die Kostenstrukturen. Lückenlose Streckenüberwachung wäre sehr teuer. Es geht aber auch um die Stückzahlen der Züge. Der globale Gesamtmarkt für Zugtriebwagen liegt im Bereich 3000 bis 4000 Stück pro Jahr, davon nur 50 Hochgeschwindigkeits-Triebwagen. Bei solchen Stückzahlen sind kaum Skaleneffekte zu erwarten, wie sie etwa Autotechnik vergünstigt. Dazu kommt, dass ein Zug locker 30 Jahre täglichen Betrieb sehen kann. Man kann diese Medaille jedoch umdrehen, um die Gegebenheiten als Vorteil zu betrachten: Jedes neue Zugsystem kann (ja: muss) passend zur zu lösenden Transportaufgabe konstruiert werden. Und hier werden wir in den nächsten Jahren einigen Fortschritt sehen – den größten Teil davon durch konkurrenzlos kosteneffiziente Digitalisierungsmaßnahmen.

Noch einmal die U2 in Nürnberg: Solche maßgeschneiderten Lösungen aus Modulen der Spezialhersteller sind im Bahnbetrieb üblich und können eine Stärke sein.

(Bild: VAG – Claus Felix)

(cgl)