Greenwashing: Wie sich die Wirtschaft klimaneutral rechnet

CO2-Emissionen zu messen und auszugleichen wird immer beliebter in der Wirtschaft. Wie einfach ist es für Unternehmen, klimaneutral zu werden?

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Wenn Unternehmen ernsthaft über Nachhaltigkeit jenseits des Offsettings nachdenken, müssen sie ihre Lieferketten hinterfragen. Einhorn lässt etwa jetzt in Malaysia für seinen Kautschuk Gummibaumwälder statt der üblichen Monokulturen pflanzen.

(Bild: Einhorn)

Stand:
Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Jan Vollmer
Inhaltsverzeichnis

(This article is also available in English)

Der elektrische Porsche "Taycan Cross Turismo" wirkt auf den ersten Blick nicht besonders klimafreundlich: Er ist 1,96 Meter breit und 4,97 Meter lang – damit ist er sechs Zentimeter breiter und sieben Zentimeter länger als ein aktueller VW-Transporter. Er wiegt leer 2,3 Tonnen – etwa so viel wie ein männliches Breitmaulnashorn.

Ein Taycan Cross Turismo soll vieles sein: Ein Sportwagen mit 476 PS. Ein Familienauto mit 446-Liter-Kofferraum und fünf Türen. Ein Geländewagen mit Allradantrieb. Ein Elektroauto. Porsche wirbt damit, dass der "Cross Turismo" bilanziell "CO2-neutral" sei. Seit März 2021 gibt es ihn zu kaufen. Das Jahr, in dem an der amerikanischen Westküste über 50 Grad Celsius gemessen werden; in dem die Wälder des Amazonas – früher als "die grüne Lunge des Planeten" bekannt – erstmals mehr CO2 abgeben als sie aufnehmen; in dem bei Fluten in Westdeutschland über 170 Menschen sterben. Er ist "der neue Porsche" in dem Sommer, in dem die Klimakatastrophe in der deutschen Öffentlichkeit ankommt.

Er nährt die Hoffnung der Verbraucher, dass beides geht: In 5,1 Sekunden von 0 auf 100 beschleunigen und dabei in Zeiten der Waldbrände und Flutkatastrophen kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Er nährt aber auch die Hoffnung der Industrie: Dass man eigentlich so weitermachen kann wie bisher, nur mit dem Label "klimaneutral". Wir können auch "klimaneutral" mit Easyjet von Berlin nach Fuerteventura fliegen. Bei Aldi-Süd gibt es "klimaneutrale" Milch. "Hofer" in Österreich verkauft "klimaneutrales" Rindfleisch. Man kann es sogar auf "klimaneutraler" Kohle grillen.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 7/2021

Hinter dieser ganzen Klimaneutralität steht ein bei Unternehmen zunehmend beliebtes Konzept: Carbon-Offsetting. Wie bei allen anderen Produkten auch entsteht CO2 bei der Produktion oder dem Verbrauch eines Produkts in einem reichen Land wie Deutschland, England oder den USA. Unternehmen wie Porsche, Easyjet, Aldi-Süd oder Hofer zahlen dann eine bestimmte Summe an Umweltprojekte in ärmeren Ländern, die CO2 einsparen sollen. Eine Tonne CO2 wird hier ausgestoßen, Geld wird überwiesen, eine Tonne wird woanders eingespart.

Offsetting wird schon seit 15 Jahren scharf kritisiert. Die Argumente von Gegnern wie dem Umwelt-Aktivisten und Guardian-Kolumnisten Georg Monbiot sind, dass das CO2 erstens dennoch entsteht, auch wenn ein Produkt das Label klimaneutral trägt. Zweitens produzieren reiche Länder in Europa, den USA, Kanada und China weitaus mehr CO2, als man rein rechnerisch im Globalen Süden überhaupt einsparen kann. Und drittens ist nur bei wenigen Kompensationsprojekten überhaupt klar, wie viel CO2 sie tatsächlich einsparen. 2006 prägte Monbiot das Bild vom Klima-Ablasshandel. "In dem sie uns ein reines Gewissen verkaufen, untergraben die Offsetting-Unternehmen den notwendigen politischen Kampf, um Klimawandel zu Hause anzugehen", so Monbiot.

Die Kritik wird aktuell durch die Recherchen der Wochenzeitung ZEIT und der britischen Tageszeitung Guardian gestützt. Redakteurinnen und Redakteure haben das Thema CO2-Zertifikate verfolgt und dabei besonders Konzerne in den Blick genommen, die behaupten "klimaneutral" zu sein. Dazu zählen etwa Disney, Netflix, Shell, Boeing, Bayer, SAP und viele andere Unternehmen, die Zertifikate aus Waldschutzprojekten erworben haben, die zu keiner Einsparung von CO2 führen. In Gesprächen zwischen den zwei Medienhäusern und mehrere am Handel mit den Zertifikaten beteiligte Akteure werden Probleme ersichtlich. Es geht dabei um die Rolle und Standards des weltweit führenden Zertifizierers auf dem Markt, Verra. Die Auswertung legt nahe, dass über 90 Prozent der Zertifikate aus den untersuchten Projekten kein CO2 einsparen. Es handelt sich demnach um einen Umfang von 89 Millionen Tonnen CO2.

Wie Offsetting geht, weiß Anna Alex. Sie sitzt in dem grünen Innenhof eines vierstöckigen Bürogebäudes in Berlin Mitte und tippt in ihr Linkedin-Profil: "Mit unserer Lösung werden Unternehmen #klimaneutral". In der Berliner Start-up-Szene war Alex lange als Gründerin des Online-Shops "Outfittery" bekannt. Seit sie im Winter 2019 "Planetly" gegründet hat, wird sie auf Panels eingeladen, um zu erklären, wie Unternehmen mit ihrer Software ihren CO2-Ausstoß messen und klimaneutral werden können.

Hinter ihr liegt die offene Bürofläche von "Planetly". Von den 60 Mitarbeitenden sitzen dort nur zwei oder drei hinter ihren Bildschirmen. "Als ich den CO2-Fußabdruck von Outfittery berechnen wollte, habe ich keine Softwarelösung gefunden", erzählt Alex. "Wir hatten einen Berater, der mit einem Excel-Sheet gearbeitet hat und uns dann ein PDF geschickt hat: Das ist jetzt euer Footprint. Aber ein Excel Sheet ist nicht für die Transformation gemacht. Es liefert keine Insights für Entscheidungsträger und -Trägerinnen", sagt Alex.

Anna Alex stellt ihre Unternehmerinnenqualitäten seit 2019 mit Planetly in den Dienst des CO2-Fußabdrucks von Firmen.

(Bild: Planetly)

CO2-Rechner für Unternehmen gebe es schon seit einigen Jahren, der Unterschied zu Planetly sei, so Alex, dass Planetly auf Daten wie Stromverbrauch oder Geschäftsreisen aus der jeweiligen Unternehmenssoftware der Kunden zugreift und den Prozess damit schneller und akkurater mache. "Wir schauen, was die Quick-Wins sind: Travel Policy anpassen, Mitarbeiter im Homeoffice auf grüne Energie umstellen. Oft sind das 20 bis 30 Prozent der Emissionen", sagt Alex.

Über 150 Unternehmenskunden, so eine Unternehmenssprecherin, habe Planetly aktuell. Es gibt sogar ein eigenes Label "Carbon neutral + 2020. Planetly" steht da in einem blauen Kreis auf den Seiten der Planetly-Kunden. Eines dieser Unternehmen ist das Weltraum-Start-up "Yuri". Es hat laut Planetly im Jahr 2020 141 Tonnen CO2 emittiert. Das ist ungefähr so viel, wie 31 Autos durchschnittlich pro Jahr ausstoßen.

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Ich erreiche Yuri-Gründer Mark Kugler per Videoanruf. Um mit Planetly "klimaneutral" zu werden, erzählt er, habe er sich zwei Stunden hingesetzt und Zahlen zu seinem Start-up herausgesucht. Nach Planetlys CO2-Berechnung seien Strom und Geschäftsreisen die größten Posten gewesen. Die CO2-Emissionen der Raketen, so Kugler, hätten sie sogar vorsichtshalber rechnerisch verdreifacht, um sicherzugehen, dass sie auch alles ausgleichen. Sie seien jetzt auf grünen Strom umgestiegen und wollen auf Geschäftsreisen innerhalb Europas nicht mehr fliegen. Den Rest der Emissionen habe Yuri ausgeglichen – indem sie rund 1.000 Euro an ein Solar-Energie-Projekt und ein Brunnenbau-Projekt auf den Philippinen gespendet haben.

Mark Kugler ist Gründer des Weltraum-Start-ups Yuri. Er setzt auf Offsetting für seine Raketen und versucht für Yuris Klimaneutralität, inneratmosphärische Flüge zu vermeiden.

(Bild: Yuri)

Über 100 Unternehmen, so die Planetly-Sprecherin, "haben sich für ein bereits vergangenes Geschäftsjahr durch Kompensation klimaneutral gestellt." Auch der Möbelhändler home24 gibt an, dank Planetly "klimaneutral" zu sein. 22.100 Tonnen CO2, heißt es auf der Website, habe man für das Jahr 2019 ausgeglichen. Wie viel Geld das Unternehmen dafür pro Tonne CO2 ausgegeben hat, möchte es nicht verraten. Mit seinen rund 1.000 Euro hat Weltraumunternehmen Yuri jedenfalls etwa sieben Euro für das Offsetting einer Tonne CO2 gezahlt.

Nur zehn Gehminuten vom Planetlys Büro entfernt, liegt das Büro der Iota Stiftung. Iota ist 2016 als Kommunikationsprotokoll gestartet, das ähnlich wie eine Blockchain funktioniert, aber dabei einige der Probleme vieler Blockchains vermeidet. Während Bitcoins geschürft werden, existieren Iota-Einheiten schon auf dem Markt. Für jede Transaktion, die eine Iota-Nutzerin tätigen will, muss sie zwei andere Transaktionen überprüfen.

Iota versteht sich als digitale Infrastruktur, auf der alle möglichen Arten von verifizierten Informationen laufen können. Das "Internet of Everything". Seit Ende 2020 arbeitet die Stiftung dafür mit "Climate Check" zusammen. Das Unternehmen hat sich auf Messungen, Reporting und Verifikation spezialisiert. Die gemeinsame Idee ist, mit IoT- über das Iota-Protokoll verifizierte Daten zu CO2-Emissionen oder Einsparungen der Geräte in Echtzeit zu erfassen.

Mathew Yarger, Iotas "Head of Smart Mobility", erklärt mir das System via Zoom, von seinem Schreibtisch in Austin Texas aus. Er sei kein Klimaexperte. "Ich designe nur gerne Plattformen", sagt Yarger. Er öffnet ein Dashboard, auf dem er mir die Sensoren eines Pilotprojekts auf Google Maps zeigen kann. Mit ein paar Klicks ruft er das digitale Modell einer Anlage in Chile auf, die die Treibhaus-Gase einer Müllhalde auffängt und zerstört. 27 Tonnen CO2 hat die Anlage in den letzten 30 Tagen aufgefangen und damit reduziert, 348 Tonnen in den vergangenen 12 Monaten.

"Mit so einem System müssen Organisationen nicht Wochen damit verbringen, einen Experten zu der Anlage zu bringen, der dann ihre Leistung überprüft. Wir können vom Schreibtisch aus sehen, ob und wie viel sie reduziert," so Yarger. In zwei bis drei Jahren, hofft er, "könnten ein paar dutzend Partner unseren Code für solche Projekte nutzen." Er selbst versucht gerade, die Stadt Austin davon zu überzeugen, über das Iota-System zu tracken, wie viel Strom Austins Solaranlagen in das Netz einspeisen. "Wir hoffen damit eine Datengrundlage in Echtzeit zu schaffen, mit der Investoren beurteilen können, welche Investitionen sich lohnen und wirklich CO2 reduzieren, und welche nicht,“ so Yarger.

Langfristig, so hofft Yarger, kann Iotas Dashboard damit zu einem digitalen Modell von weltweitem CO2-Ausstoß und Reduktion werden. Je mehr CO2-messende IoT-Geräte an Yargers Pilotprojekt angeschlossen werden, desto genauer wird es – und umso genauer wüssten wir über den tatsächlichen CO2-Haushalt der Erde bescheid.

Natürlich könnte man auch ohne ein Protokoll wie Iota Echtzeitdaten über CO2-Reduktion in einem Dashboard zusammenführen. Das besondere an Iotas Pilotprojekt ist allerdings, dass die Daten dank des dezentralen Systems sehr viel verlässlicher sind, als wenn Unternehmen selbst Angaben über ihren CO2-Ausstoß oder ihre Reduktion machen. Und je mehr Daten in Iotas Dashboard eingehen, desto düsterer wird das Bild. "Es kann gut sein, dass wir uns am Ende die Zahlen anschauen und denken: Wow, wir haben einen viel größeren negativen Impact als wir dachten; wir sind viel weiter weg von unseren Zielen, als wir gehofft haben. Das kann unangenehm werden. Aber auch dann ist es besser, Klarheit zu haben, als ignorant zu sein."

In den "Klimaneutral"-Labeln steckt genau diese Ignoranz und viele in der Nachhaltigkeitsszene sehen Offsetting kritisch: "Offsetting darf niemals darüber hinwegtäuschen, dass die Reduktion das ist, worum es gehen muss", sagt auch Tilman Santarius, der an der TU Berlin zu Umwelt, Wirtschaft und Digitalisierung forscht. "Ich mach so weiter wie bisher und kann es mir leisten zu kompensieren – das ist ein zeitlicher und regionaler Verschiebebahnhof. Es ist heute und langfristig nur eine Lösung für die Nische."

"Offsetting kann eine billige und unkomplizierte Art sein, das eigene Unternehmen gut darzustellen," erklärt auch Mareike Blum, eine Forscherin des Klima-Instituts MCC in Berlin. "Die einen sehen darin eine Gefahr des Greenwashings, die anderen verstehen es als ersten Schritt und sagen, es sei besser als nichts."

Mareike Blum erforscht Legitimität und Kontroversen in der Klimapolitik am MCC.

(Bild: Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) gGmbH / Matti Hillig)

Aktuell, so Blum, gehe der Trend dahin, dass sich Unternehmen auf Einsparpotenziale entlang ihrer eigenen Lieferkette fokussierten, was oft als Supply Chain Management oder Insetting bezeichnet wird. "Es geht dabei darum, in der eigenen Lieferkette CO2 zu reduzieren, statt zufällig irgendwo sonst auf der Welt etwas auszugleichen. Das macht die eigenen Problemzonen bewusster und ist auch greifbarer für die Konsumierenden." Dieser Trend, so Blum, greife einen zentralen Punkt der Offsetting-Kritik auf, die besagt, dass Staaten und Unternehmen eigene Anstrengungen unternehmen sollten, ihre selbst verursachten Emissionen zu prüfen und zu reduzieren, anstatt diese kostengünstig an anderer Stelle auszugleichen.

Um zu lernen, wie das funktionieren kann, treffe ich Elisa Naranjo in einer kanadischen Pizzeria in der Kreuzberger Dieffenbachstraße. Sie tunkt die Spitze ihrer Pizza-Ecke in einen scharf-süßen Dipp, die Spezialität des Hauses und verdreht die Augen, als ich sie frage, was sie davon hält CO2-Emissionen einfach zu tracken und auszugleichen. Naranjo arbeitet seit sechs Jahren als "Head of Fairstainability" für Einhorn, ein Berliner Unternehmen für nachhaltige Kondome und Hygieneprodukte. Für Einhorn ist die Beratung zu Nachhaltigkeitsthemen neben Kondomen und Hygieneprodukten inzwischen zu einem eigenen Geschäftszweig geworden.

Nachhaltige und faire Produktion von "Untenrumprodukten" sind das Geschäft von Elisa Naranjo bei Einhorn.

(Bild: Einhorn)

"Die spannende Frage ist nicht das Tracking, sondern wie es danach weitergeht. Passiert dann was, oder wird es nur ausgeglichen?" sagt Naranjo. "Wenn man es ernst meint mit der Nachhaltigkeit, liegen Maßnahmen wie auf Ökostrom umstellen, Flotte umbauen, Inlandsflüge streichen eh auf der Hand. Dafür braucht man keine Beratung."

Die erste CO2-Lifecycle-Analyse für Einhorn, erzählt Naranjo, habe ein Student für seine Masterarbeit gemacht. Seitdem arbeitet Einhorn an der eigenen Lieferkette: Wo kommt der Kautschuk her? Wie viel Energie verbraucht der Hersteller? Lassen sich Kondome auch ohne Verbundmaterialien verpacken? "Die Frage ist, wie ernst man das Thema nimmt", sagt sie. "Ich war die erste Angestellte bei Einhorn und wurde dafür bezahlt, nervige Fragen zu stellen." Wirklich spannend werde es für sie, wenn ein Unternehmen über das Produkt selbst nachdenkt. "Wenn jemand Socken produziert, macht es mehr Sinn, sich zu überlegen, wo die Socken kaputt gehen und wie sie länger halten könnten, statt erst zu produzieren und später nur auszugleichen."

Wie sie unter dem Aspekt unseren Porsche vom Anfang der Geschichte sehe, will ich von ihr wissen. Zunächst lächelt sie nur. Dann sagt sie: "Wenn Porsche ernsthaft über Nachhaltigkeit nachdenken würde, wäre die erste Frage: Was ist hier das eigentliche Produkt? Geht es hier tatsächlich um Mobilität? Die könnte man sicherlich viel nachhaltiger anbieten, als wenn maximal fünf Personen mit 500 PS durch die Gegend schießen. Die Frage ist, ob Porsche sich diesen Fragen überhaupt ernsthaft stellen will."

(lca)