Missing Link: Zur Gewalt in Computerspielen 20 Jahre nach der Amoktat von Erfurt

Seite 3: 20 Jahre später

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Szene aus dem Film "Clockwork Orange": Malcolm McDowell als Alexander DeLarge.

(Bild: Warner Bros.)

Die hitzigen Diskussionen über "Killerspiele" oder generell über Gewaltdarstellungen in Medien hallen heute aus der Ferne herüber, die Gewalttaten von Emsdetten 2006 und Winnenden 2009 ließen sie vorübergehend wieder aufleben. Vor 20 Jahren waren Gewaltorgien in Fernsehserien wie "Game of Thrones" oder "The Walking Dead" wohl noch nicht denkbar, heute flimmern sie allgemein zugänglich über die Monitore. Filme und Computerspiele zeigen dank weit fortgeschrittener Technik Gewalt wesentlich ausgefeilter als anno 2002. Gewalthaltige Computerspiele sind Bestandteil des "E-Sports", der sich in der Zwischenzeit etabliert hat, so mancher renommierte Sportverein hat sich dafür eine eigene Abteilung zugelegt.

Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) räumt gegenüber heise online ein, dass "Darstellungen in den vergangenen Jahren realistischer geworden" sind, die Spiele setzten aber heute weniger auf "Shock Value" als Stilmittel. Entwicklerteams seien auch ohne diese Effekte erfolgreich darin, Aufmerksamkeit zu erregen. Gewalt-Exzesse seien dafür also kein "notwendiger" Bestandteil mehr.

Vielmehr würden Spiele heute oft nach dem "Service-Charakter" beurteilt, erläutert Irina Rybin von der USK: "Ein großes Universum, in dem viele kleine Elemente über lange Zeit mitverkauft werden – ein langfristiges, massentaugliches Produkt ist wichtiger als ein möglicher Hype-Erfolg." Daher stünden im Umgang mit digitalen Spielen heute vermehrt Themen im Vordergrund wie Zusatz-Käufe, Spielzeiten, Lootboxen, Mobbing oder die Sicherheit von privaten Daten.

Ein Eindruck, den Kollege Daniel Herbig bestätigen kann. Er meint auch, dass Gewalt seltener als Selbstzweck eingesetzt werde. Die Darstellung von Gewalt diene oft dem Gefühl von Realismus, manchmal solle sie sogar eine Botschaft vermitteln. Das Spiel "The Last of Us Part 2" beispielsweise enthalte brutale, kaum erträgliche Gewaltdarstellungen. Es sei aber kein stumpfes Ballerspiel, es liege darüber eine klug erzählte Geschichte zu dem, was Menschen sich gegenseitig antun. In "GTA 5" gebe es etwa eine Szene, in der Spieler aktiv einen hilflosen Gefangenen foltern müssen. Das sei so abstoßend inszeniert, dass sich die Spieler durchquälen müssen. So werde die Szene durch den Kontext zu einer "klaren und wirklich sehr eindringlichen Botschaft gegen Folter jeder Art. Das könnten Videospiele anders vermitteln als Filme, bei denen es nur Zuschauer gibt, meint Herbig.

Mit Ausnahmen, wie sich auch anlässlich des 80. Geburtstags des österreichischen Filmregisseurs Michael Haneke vor einem Monat einwenden ließe. Er behandelte das Thema "Gewalt" immer wieder in seinem Werk. In "Funny Games" treibt Haneke das Spiel mit der Gewalt und mit dem Publikum auf die Spitze. Die zwei Psychopathen in dem Film, die ein Ehepaar brutal überfallen und gefangenhalten, wenden sich in direkter Ansprache an das Filmpublikum, und zwar in seiner Rolle als solche: "Sie wollen doch auch wissen, wie es weitergeht, oder?"

In Hanekes Film "Bennys Video" (bis zum 30. April 2022 in der Arte-Mediathek zu sehen, Mindestalter 18 Jahre) geht es vordergründig um einen "wohlstandverwahrlosten" Jungen, der ein Mädchen emotionslos mit einem Bolzenschussgerät tötet und den Vorgang mit seiner Videokamera dokumentiert. Die Geschichte ist so schon abstoßend genug, obendrein versuchen Bennys Eltern, die Tat zu vertuschen. Gewalt wird hier zu einem extremen Vehikel für andere Botschaften: Benny geht es darum, mit seiner Kamera Kontrolle auszuüben, seinen Eltern darum, die Kontrolle nicht zu verlieren – als Metapher für eine gemutmaßte besondere Eigenschaft der östereichischen Landsleute, gerne etwas unter den Teppich zu kehren.

Mit dem Kinopublikum spricht auch Malcolm McDowell als Alexander DeLarge, Protagonist des Films "Clockwork Orange" des US-amerikanischen Filmregisseurs Stanley Kubrick, der vor fast genau 50 Jahren in die deutschen Kinos kam und heftige Kritik auslöste bis hin zu dem Vorwurf, darin würde Gewalt lediglich zum Selbstzweck ästhetisiert dargestellt. Kubricks Antwort darauf lautete: "Jeder ist von der Gewalt fasziniert. Schließlich ist der Mensch der unbarmherzigste Killer, der je auf Erden jagte."

In einem Gespräch mit dem französischen Filmkritiker Michel Ciment sagte Kubrick im Jahr 1972: "Kunst enthält von jeher Gewalt. Gewalt ist in der Bibel, bei Homer, bei Shakespeare anzutreffen. Meiner Ansicht nach ist die Frage, ob Film und Fernsehen in letzter Zeit mehr Gewalt zeigen und, falls dies zutrifft, welche Auswirkungen dies hat, weitgehend ein von den Medien hochgespieltes Thema." Diese schlachteten das Thema aus, weil es ihnen ermögliche, sogenannte schädliche Dinge von erhabener, moralisch überlegener Warte darzustellen.

Die Vorstellung, dass Kino- und Fernsehfilme einen ansonsten unschuldigen und guten Menschen in einen Verbrecher verwandeln könnten, sei zu vereinfachend, sagte Kubrick. Vielmehr beeinflussten sehr komplexe soziale, wirtschaftliche und psychologische Einflussgrößen das Verhalten des jeweiligen Verbrechers. Gewaltverbrechen würden regelmäßig von Menschen begangen, die schon vorher als asozial bekannt gewesen seien, oder aber durch plötzlich erkennbar werdende Psychopathen, die später als "so nette, ruhige, junge Menschen" beschrieben werden. Und das, obwohl später erkennbar werde, dass ihr gesamtes Leben sie unerbittlich auf einen grauenerregenden Augenblick zugeführt habe, an dem ein auslösendes Moment wirksam werde.

Zu Ciments Ansicht, Kubrick stelle in Clockwork Orange Gewalt so dar, dass eine distanzierende Wirkung entstehe, erwiderte der Regisseur: "Falls das stimmt, ist es wohl darauf zurückzuführen, dass die Geschichte sowohl im Roman als auch im Film von Alex erzählt wird." Manche würden behaupten, das mache Gewalt attraktiv, "meiner Ansicht nach ist dies völlig unzutreffend", sagte Kubrick vor 50 Jahren.