Missing Link: Zur Gewalt in Computerspielen 20 Jahre nach der Amoktat von Erfurt

Seite 6: Robert Steinhäuser in der Scheinwelt

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"Mediale Inhalte sind daher auch nicht monokausal Ursache für negatives Verhalten, aber sie können – unter bestimmten Voraussetzungen – verstärkend wirken", schließt Linz aus den bisherigen Forschungsbemühungen seiner FSK. "Monokausal" könne auch keine Erklärung auf die Frage sein, wie es dazu kommen konnte, dass Robert Steinhäuser 16 Menschen und anschließend sich selbst tötete, heißt es in dem Untersuchungsbericht der "Kommission Gutenberg-Gymnasium". Vielmehr seien hier mehrere Faktoren gebündelt.

Steinhäuser wurde altersgerecht eingeschult, heißt es darin. Als er 12 Jahre alt war, entschieden die Eltern, ihn auf das Gutenberg-Gymnasium zu schicken. Seine Meinung dazu beachteten sie nicht. In der Schule zeigte er sich antriebsschwach, seine Leistungen verschlechterten sich zunehmend. "Es ist anzunehmen, dass Robert Steinhäuser im Gymnasium überfordert war", schreibt die Kommission. Elternhaus und Schule hätten dazu keine konstruktive Problemlösung angeboten. Am Ende der 10. Klasse scheiterte Steinhäuser mit seinem Versuch, einen externen Realschulabschluss zu bekommen.

Ab diesem Zeitpunkt empfand Steinhäuser das schulische Versagen immer stärker als sehr kränkend und enttäuschend, vermutet die Kommission. Er war auch nicht in der Lage, seine desolate Situation eigeninitiativ zu ändern, aktiv die Richtung zu wechseln. Er übernahm nicht die Verantwortung für sich und sein Fehlverhalten, sondern schrieb Ursachen für sein Versagen anderen zu. Die Familie setzte sich mit ihm zu wenig tiefgründig auseinander, Probleme und Konflikte wurden nicht ausreichend klar kommuniziert und offen bewältigt.

Robert Steinhäuser hatte sich zu einer Persönlichkeit entwickelt, die in vielen Bereichen kaum oder keine Kompetenzen erworben hatte. Er lernte zu wenig Probleme ausreichend wahrzunehmen und zu bewältigen oder andere um Hilfe zu bitten. Auch konnte er nicht konstruktiv mit Kritik umgehen und aus Fehlern lernen. "Stattdessen bildete er eine Art kompensatorischen Größenwahn aus", heißt es in dem Bericht.

Einen weiteren Tiefpunkt erlebte Steinhäuser, als er am Ende der 11. Klasse im Fach Informatik die Note 6 bekam – er musste seinen Traum aufgeben, das Fach zu studieren – und seine Eltern entschieden, dass er die Klasse wiederholen sollte. Robert wurde aus seinem Kurz- oder Klassenverband herausgelöst. Diese Situation stand im Gegensatz zu dem von ihm nach außen vermittelten Selbstbild, andere Menschen nahmen ihn als cool und mitunter arrogant wahr.

Robert Steinhäuser kapselte sich immer mehr ab, damit er nicht von anderen abhängig war und keine Kränkungen mehr erfuhr, schreibt die Kommission. Seit seinem 14. Lebensjahr saß er viel vor Videofilmen und Computerspielen, die oft Gewalt zeigten. Er zog sich immer weiter in eine Scheinwelt zurück, als Gegenpol zur Welt voller Frustrationen. Hier, in Fachliteratur und auch im realen Leben beschäftigte sich Steinhäuser immer mehr mit dem Gebrauch von Schusswaffen, er trat in einen Schützenverein ein und absolvierte Schießübungen.

Am Ende seines zweiten Durchgangs der 11. Klasse wies Robert Steinhäuser erneut ein mangelhaftes Jahreszeugnis und dazu viele Fehlzeiten auf. Wegen eines gefälschten Attests wurde er von der Schule ausgeschlossen. Steinhäuser unternahm nur einen halbherzigen Versuch, auf ein anderes Gymnasium zu wechseln. Gegenüber seiner Familie, Freunden und Bekannten verheimlichte er das Ende seiner Schulkarriere, legte ein gefälschtes Halbjahreszeugnis vor und täuschte vor, 2002 das Abitur zu absolvieren. "Dabei überschritt er irgendwann den Punkt, ab dem es jedenfalls aus eigenem Antrieb kein Zurück zu einem Eingeständnis seines Scheiterns mehr geben konnte", heißt es in dem Untersuchungsbericht.

Steinhäuser erwarb eine Waffenbesitzkarte, so konnte er erstmals wieder ein durch eine eigene Leistung herbeigeführtes Erfolgserlebnis verspüren, vermutet die Kommission. Bewusst oder unbewusst verschaffte sich Steinhäuser die Voraussetzungen, um Macht- und Gewaltmittel in seine Hände zu bekommen.

Durch Taschengeld seiner Eltern und Zuwendungen der Großeltern hatte Steinhäuser 3500 Mark angespart, so heißt es in dem Untersuchungsbericht. Nach heutiger Kaufkraft umgerechnet knapp 2500 Euro. Von diesem Geld kaufte er sich ohne Wissen seiner Eltern zwei Schusswaffen, die er später mit in das Gutenberg-Gymnasium nahm, an dem symbolträchtigen Tag der Abiturprüfungen des 26. April 2002.