Missing Link: Zur Gewalt in Computerspielen 20 Jahre nach der Amoktat von Erfurt

Seite 5: Der Stand der Medienwirkungsforschung

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Junge Menschen betätigen sich als FSK-Prüfer.

(Bild: medienkompetenz-jugendschutz.de)

Den Stand der Forschung fasst Merten Neumann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), für heise online zusammen: "Um Theorien über Zusammenhänge zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und Aggression nachzuweisen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Laborexperimente, Befragungsstudien und auch Langzeituntersuchungen vorgenommen."

Als Grundlage diente dabei ein theoretisches Modell der Psychologen Craig Anderson und Brad Bushman. "Aus dem Modell lässt sich ableiten, dass der Konsum von gewalthaltigen Medien auf verschiedensten Wegen die Auftretenswahrscheinlichkeit für aggressives Verhalten sowohl kurzfristig – zum Beispiel durch eine erhöhte Anspannung oder die Aktivierung von aggressiven Gedankeninhalten – als auch langfristig zum Beispiel durch Desensibilisierung gegenüber Gewalt oder die Belohnung von Gewalt im Spiel erhöhen sollte", erläutert Psychologe Neumann vom KFN. Dessen früherer Direktor, der Kriminologe Christian Pfeiffer, hatte bei mancher Gelegenheit vor bestimmten Computerspielen gewarnt.

"Dabei haben sich auch im wissenschaftlichen Diskurs mitunter verhärtete Fronten gebildet, die eine objektive Einschätzung erschweren können", schildert Neumann. Die hitzige Debatte habe aber auch dazu geführt, dass zu dem Thema ungewöhnlich viele wissenschaftliche Ergebnisse publiziert worden seien. In den meisten Studien lasse sich ein Einfluss des Konsums gewalthaltiger Videospiele auf die Auftretenswahrscheinlichkeit von Aggression nachweisen. "Wichtig ist aber, dass dieser Zusammenhang oft nur recht klein ist", betont Neumann.

Zudem ließen sich in Experimentalstudien stärkere Zusammenhänge identifizieren als in Befragungsstudien und Langzeituntersuchungen. Das habe vermutlich zwei Gründe: "Erstens werden in Experimentalstudien oft aggressive Verhaltensweisen betrachtet, die nur bedingt mit Aggression in Alltagssituationen gleichzusetzen sind", erklärt Neumann. "Zweitens beforschen Experimentalstudien vornehmlich den kurzfristigen Zusammenhang zwischen dem Medienkonsum und der Aggression, während gerade bei Langzeituntersuchungen eher langfristige Prozesse im Vordergrund stehen."

Es sei also davon auszugehen, dass der Konsum von gewalthaltigen Videospielen zwar kurzfristig das Aggressionspotential leicht erhöhen könne, dies sich aber nur selten in echter Aggression äußert. Auch werde deutlich, dass Studien kleinere Zusammenhänge berichten, wenn sie alternative Erklärungsfaktoren für Aggression berücksichtigen. Dazu gehören Persönlichkeitseigenschaften wie Gewaltaffinität oder Impulskontrolle, Aspekte der Sozialisierung oder des sozialen Umfeldes. Als Beispiele führt Neumann gewalthaltige Erziehung und kriminelle Freunde an.

"Dies deutet darauf hin, dass der Konsum von gewalthaltigen Videospielen im Vergleich zu anderen Erklärungsfaktoren nur einen vernachlässigbaren Einfluss auf die Auftretenswahrscheinlichkeit von Aggression zeigt", erläutert Neumann.

Es werde also davon ausgegangen, dass der Konsum von gewalthaltigen Medien allein in der Regel nicht direkt zu aggressivem Verhalten führen kann. Kombiniert mit anderen Faktoren wie unkontrollierter Mediennutzung und aggressionsförderlichen Persönlichkeitseigenschaften könne er aber möglicherweise problematische Auswirkungen entfalten.

"Das Mediennutzungsverhalten ist oft ein kleines Rädchen im Erklärungsmodell für aggressive Verhaltensweisen", resümiert Neumann. Nach dem heutigen Stand sei die Annahme nicht haltbar, dass die Inhalte von Medien spurlos an uns vorübergehen, aber ebenso wenig die Meinung, dass "Killerspiele" der wichtigste auslösende Faktor für Amoktaten oder andere schwere Gewaltstraftaten seien.

"Für den Jugendmedienschutz bedeutet die Diskussion über mögliche Zusammenhänge zwischen realer und medial inszenierter Gewalt eine grundsätzliche wie konkrete Herausforderung", sagte FSK-Geschäftsführer Linz. Dabei seien vor allem zwei Fragen relevant: Wie sehen und verarbeiten Kinder und Jugendliche unterschiedliche Arten filmischer Gewalt? Wo lassen sich Gewaltwirkungsrisiken ausmachen, die den Entwicklungszielen von Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit nach Paragraph 14, Absatz 1 des Jugendschutzgesetzes zuwiderlaufen?

Dabei stehen laut Linz Fragen im Vordergrund wie: Welche Gewaltformen werden im Film thematisiert? Wie sind Täter- und Opferrollen dargestellt? Aus wessen Perspektive wird ein Gewaltvorgang gezeigt? In welchem Kontext findet Gewalt statt? Spielen die Folgen von Gewaltanwendung eine Rolle? Wie sind Gewaltvorgänge visualisiert?

Allerdings gibt es laut Linz kaum Studien, die die Wirkung von vollständigen Filmen und nicht nur von Ausschnitten oder kürzeren Clips auf Kinder und Jugendliche erforschen. Um dies herauszufinden und auch, wie Heranwachsende selbst die Wirkung von Filmen einschätzen, betreibt die FSK seit 2003 zusammen mit den Obersten Landesjugendbehörden die Projektreihe "Medienkompetenz und Jugendschutz", an der bisher mehr als 1700 Heranwachsende beteiligt waren. Unter anderem schlüpften Mädchen und Jungen in die Rolle von FSK-Prüferinnen und Prüfern und äußern sich zu den Wirkungen des Films auf sie selbst und welche sie bei anderen vermuten, beispielsweise jüngeren Menschen.

Eine Erkenntnis aus der FSK-Projektreihe: Die unterschiedlichen Reaktionen von 12- bis 16-jährigen Kindern auf die eingesetzten Filme zeigten, dass die meisten durchaus in der Lage gewesen seien, sich vom Gesehenen zu distanzieren und problematische Inhalte zu verstehen. "Sie setzten sich mit den inhaltlichen Kontexten auseinander, in denen Gewalt eine Rolle spielt, vollzogen Entwicklungen der Protagonisten nach und brachten ihr Genrewissen mit ein. Auf drastische und unerwartete visuelle Umsetzung von Gewalt reagierten sie teilweise ablehnend, konnten dies aber problematisieren."

Das treffe aber nicht auf alle Kinder gleichermaßen zu. Entscheidend für die Rezeption seien auch der persönliche Hintergrund und die unterschiedliche Medienerfahrung der Mädchen und Jungen, heißt es aus der Projektreihe Medienkompetenz und Jugendschutz.

Eine "einfache" These zur Gewaltwirkung gibt es nicht, lautet ein Fazit aus einem Projekt mit 16- bis 18-Jährigen. Grundsätzlich gelte jedoch: Je ausführlicher der Tathergang und die Schädigung der Opfer, die Folgen der Gewalt und die handelnden Protagonisten dargestellt werden, umso eher sei es den Rezipienten möglich, eine kritische und ethische Haltung zum Gezeigten zu entwickeln.

"Erfahrungen von Gewaltsituationen und Konflikten gehören zum Alltag der Befragten", sagt Linz. Die Medienangebote, die sich mit Gewalt auseinandersetzen, träfen auf eine intensive Diskussionskultur über die Frage der Anwendung von Gewalt in Konfliktsituationen. "Die Jugendlichen haben in einem hohen Maß den Wert von Gewaltlosigkeit verinnerlicht, einige waren aber zugleich der Meinung, dass sich Gewaltausübung nicht immer vermeiden lässt."