Ökowende: Es wirkt

Seite 3: Wind und Sonne werden billiger

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Nur noch knapp fünf Eurocent pro Kilowattstunde veranschlagt das Energieunternehmen Vattenfall für den Ostsee-Windpark Kriegers Flak. Die Windräder stehen in 25 Metern Wassertiefe auf gut 50 Meter langen stählernen Stelzen oder Dreibeinen, den Tripods. Diese sind mit Stahlrohren verankert, die bis zu 30 Meter tief in den Meeresboden gerammt werden. Etwa 15 Kilometer vor der dänischen Küste sollen 60 bis 200 Windmühlen bis zu 600 Megawatt Leistung bringen und ab 2018 Strom liefern. Kriegers Flak wird dabei per Gleichstrom-Hochspannungskabel Dänemark, Schweden und Deutschland verknüpfen. So kann nicht nur der auf offener See erzeugte Windstrom in die Anrainerstaaten transportiert werden. Zugleich entsteht mitten in der Ostsee ein Netzknoten eines Supergrids, über die drei Länder ihren Strom austauschen werden.

Solche Kopplungen stabilisieren die Stromnetze, da überschüssiger Strom exportiert oder sich eine kurzfristige Unterversorgung durch Importe ausgleichen lässt. Kosten sind jedoch nur der eine Grund des Booms. Ein zweiter: Strom aus Wind, Wasser und Sonne macht viele Staaten unabhängiger von Energieimporten. Ein Gigant wie China hängt so weniger an den Gas- und Ölhähnen Russlands oder Arabiens. Energiezwerge wie Marokko können den Import fossiler Brennstoffe, auf dem noch vor einigen Jahren die gesamte Energieversorgung gründete, stetig reduzieren. Ein dritter: die Luftverschmutzung. Wieder ist China das Paradebeispiel.

Eigentlich wollte das Land bis 2022 ganze 300 Gigawatt Kohlekraftwerke zubauen. Doch Hunderte Millionen Chinesen leiden unter extremer Luftverschmutzung, auch die Regierungskader in Peking müssen allzu oft giftige Smogluft atmen. Der neue 13. Fünfjahresplan sieht daher nur noch 200 Gigawatt vor. Das entspricht zwar immer noch der Hälfte des gesamten deutschen Kraftwerkparks. Parallel wird jedoch der Anteil nichtfossiler Quellen steigen, um binnen drei Jahren auf insgesamt 2000 Gigawatt zu kommen. Bis 2020 soll die gewaltige Summe von 343 Milliarden Euro in den Ausbau der Erneuerbaren fließen. "Wir wollen spätestens 2030 den Höhepunkt unserer CO2-Emissionen überschreiten", sagt Liu Qiang, Energieexperte der Nationalen Entwicklungskommission NCSC. Das Land der Mitte entwickle sich zur Führungsnation bei den Erneuerbaren, meint Tim Buckley vom Institute for Energy Economics and Financial Analysis, einem US-amerikanischen Think Tank. "China hat verstanden, dass die Erneuerbaren ein enormes Wirtschaftspotenzial bieten. Die USA könnten in wenigen Jahren mit Bedauern zurückschauen."

Und Deutschland? Vergangenes Jahr lag der Ökostromanteil bei 32,3 Prozent, so hoch wie noch nie zuvor. Bei der Windkraft nähern sich die Stromgestehungskosten an den besten Standorten im deutschen Binnenland der Fünf-Cent-Marke, wie der Bundesverband Windenergie betont. Betreiber der neuesten Solarparks kalkulieren nach Angaben der Bundesnetzagentur mit knapp sieben Eurocent pro Kilowattstunde. "Langfristig könnte eine EEG-Förderung der erneuerbaren Energien sogar komplett überflüssig werden", meint Erik Gawel, Energieökonom vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.

Doch der erste Blick trügt: 2016 stiegen die Treibhausgasemissionen um fast ein Prozent. Warum kommt Deutschland beim Klimaschutz nicht schneller voran? Wer sich die Zahlen näher anschaut, entdeckt Antworten, die weltweit von Bedeutung sind. Nur ein Drittel der Treibhausgasemissionen entfiel 2016 auf die Kohleverstromung – und deren CO2-Ausstoß lag sogar gut anderthalb Prozent unter dem des Vorjahrs. Großen Nachholbedarf "haben wir indes bei der Wärmewende und bei der Verkehrswende", betont Energieökonom Gawel. "Bei der Elektromobilität sieht es in Deutschland nicht gerade nach Weltmarktführerschaft aus", setzt er süffisant hinzu. Patrick Graichen, Direktor des Think Tanks Agora Energiewende, fügt an: "Die Energiewende ist eben nicht nur eine Sache des Stromsektors. Jetzt müssen auch Industrie, Wärme und Verkehr ihre Beiträge liefern."

Deutschland steckt mitten im entscheidenden zweiten Schritt der Wende. Wer sein Land durchgängig mit 50 bis 60 Prozent Ökostrom versorgen will, benötigt ein drastisch umgebautes Energiesystem. Die Energieversorgung muss sich weiter dezentralisieren, die Standorte neuer Wind- und Solarparks näher an die großen industriellen Stromabnehmer heranrücken. Die Bereiche Wärme, Strom und Mobilität müssen zusammenwachsen. Damit benötigt das Übertragungsnetz eine neue Architektur. "Man muss eine vernünftige Balance zwischen dem Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und dem Ausbau der Stromnetze finden", sagt Gawel. Zusätzlich müssen Erzeugung und Verbrauch besser aufeinander abgestimmt werden. Speichertechniken sind nötig, um Schwankungen in der Wind- und Solarstromerzeugung für Sekunden, Stunden und Tage oder gar Monate auszugleichen.

Ansätze gibt es zuhauf: Der Technologiekonzern ThyssenKrupp will mit seinem Projekt Carbon2Chem aus überschüssigem Strom Wasserstoff herstellen. So ließe sich Kohlenmonoxid aus Hüttengasen in Methangas, Polymere oder Düngemittel umwandeln. "Das ist eine Art der Energiespeicherung, nur eben nicht in Batterien, sondern in Produkten", sagt Cheftechnologe Reinhold Achatz. Bisher verbrennt ThyssenKrupp die Hüttengase unter CO2-Ausstoß. Am Stadtrand Schwerins ballen sich in einem unauffälligen Nutzbau 25600 Lithium-Ionen-Akkus auf zwei Etagen übereinander. Seit zweieinhalb Jahren gleichen sie mit einer Kapazität von fünf Megawattstunden Schwankungen der Netzfrequenz aus.