Schule digital: "Ich habe ziemlich viel Angst, um ehrlich zu sein"

Seite 5: "Ich habe ziemlich viel Angst, um ehrlich zu sein"

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Ihr könnt ja vielleicht bald geimpft werden, es kann aber sein, dass wir auf die Impfung für Kinder und Jugendliche trotzdem noch etwas länger warten müssen. Wie stellst du dir unter dieser Voraussetzung das kommende Schuljahr vor? Hast du Ängste oder Befürchtungen, nach deinen Erfahrungen aus diesem Schuljahr?

Ich habe ziemlich viel Angst, um ehrlich zu sein. Ich schreibe im kommenden Jahr mein Abitur. Das ist so ein großer Meilenstein, aber das Schulministerium weigert sich die Prüfungen wenigstens ein bisschen anzupassen. Das heißt: Ich muss im kommenden Jahr mit Schüler:innen konkurrieren, deren Eltern vielleicht beide Akademiker sind, die in dieser Extremsituation ein eigenes Zimmer haben, zehn Endgeräte gefühlt, und – da soll ich ein gleichwertiges Abitur ablegen? Ich frage mich einfach, wie das funktionieren soll.

Du bist jetzt in der 11. Klasse oder in der 12.?

In der 11. Wir haben noch G8.

Und es hat noch keiner mit euch darüber gesprochen, ob eurer Abiturzeitraum vielleicht verlängert wird? Ob es für euch vielleicht sogar kurzfristig G9 wird?

Unsere Schule hat teilweise G9, wir sind eine der letzten Klassen, die noch G8 hat. Aber schlussendlich: Ich weiß nicht, ob eine Verlängerung uns etwas nützen würde, wenn es unter diesen Pandemie-Bedingungen so weitergeht.

Was wir wirklich brauchen, ist eine Anpassung der Prüfungen – nämlich zu dezentralen Prüfungen statt dem Zentralabitur. Die Lehrkräfte an unserer Schule wissen, was wir unter den Pandemie-Bedingungen gemacht haben. Bei dezentralen Prüfungen stellen die Lehrkräfte der Schule die Aufgaben, lassen sie vom Schulministerium prüfen, arbeiten Korrekturen ein, und dann ist das sehrwohl ein gleichwertiges Abitur. Viele Schüler:innen verstehen einfach nicht, wieso sich das Ministerium weigert, das umzusetzen.

Und es ist nicht so, als würden wir überhaupt keine Vorschläge für bessere Bedingungen machen. Wir fragen nach einem "Wahlabitur", nach "dezentralen Prüfungen", nach dem freiwilligen Sitzenbleiben, etc, etc...Und das einzige, was das Ministerium bis jetzt ermöglicht hat ist: "Wow, ich habe jetzt eine Wahlmöglichkeit mehr im Abitur" (Anmerkung der Redaktion: Es kann ein zusätzlicher Prüfungsaspekt gewählt werden.)

Also würdest du sagen, dass du in diesem Schuljahr nicht die Leistung erbringen konntest, die du sonst erbracht hättest und dass der Unterricht durch alle Maßnahmen und auch die Dinge, die nicht unternommen wurden, so gestört wurde, dass du dich da nicht gleichwertig fühlst gegenüber anderen Jahrgängen? Oder anders: Empfindest du dieses Schuljahr als nicht vollständig?

Ja, auf jeden Fall. Viele Abiturient:innen haben durch die Wahlmöglichkeit oder ein dezentrales Abi Angst, dass ihr Abiturjahrgang stigmatisiert wird. Aber das ist ja längst passiert. Wenn man sich in zehn Jahren an das Jahr 2020 zurückerinnert, dann wird einem sofort die Coronavirus-Pandemie einfallen. Ich glaube, wir sollten die Abschlüsse nicht über die Gesundheit der Schüler:innen stellen.

Wie gesagt – bevor wir Schüler:innen sind, sind wir Menschen, die Angst haben, sich da draußen eine ****** Infektion zuzuziehen und vielleicht ihre ganze Familie anzustecken.

Man könnte es ja auch andersherum wenden und statt es abzuwerten, sagen: Ihr habt das trotzdem geschafft.

Den Gedankenansatz kann man haben, aber schlussendlich – und da kommen wir auf das kapitalistische System zurück, das unsere Welt prägt – wird sich der Arbeitgeber denken: Das ist ein Corona-Abiturjahrgang. Zu sagen, wir honorieren die Arbeit der Abiturienten von 2020 besonders, ist für mich leider realitätsfern. Es wird einfach anders eingestuft und gehandelt. Wenn ich als Arbeitsgeber:in zwei Arbeitnehmer:innen vor mir sitzen habe, der eine hat eine 1,5 im Abitur, der andere eine 2,9, dann ist mir relativ egal welcher Abiturjahrgang das ist. Die Gesellschaft wird sich nicht großartig darum scheren, was den Schüler:innen widerfahren ist.

Was könnte man an der derzeitigen Situation wenigstens für euch verbessern? Wie sollte das kommende Schuljahr aussehen, damit es etwas besser für euch läuft?

Auf jeden Fall muss man die Benotung für den digitalen Unterricht aussetzen beziehungsweise nicht mehr die Benotung für den digitalen Unterricht anwenden, die man für den Präsenzunterricht genutzt hat. Die ist nämlich zum Beispiel darauf ausgerichtet, wie häufig ich mich im Präsenzunterricht melde, wie ich mich beteilige. Online kann ich mich so aber gar nicht beteiligen. Für den digitalen Unterricht gibt es noch keine Bewertungsgrundlage, die angemessen wäre.

Und es ist auch so: Wir sind es gar nicht gewohnt, so lange vor einem Computer zu sitzen. Unsere Konzentration ist einfach irgendwann komplett weg. Die Lehrkraft kann einen wahnsinnig tollen Vortrag halten, aber wir bekommen dann nichts mehr mit.

Wann fällt es dir und anderen denn besonders schwer dem digitalen Unterricht zu folgen?

Das kommt drauf an und da kommen auch wieder viele Faktoren zusammen. Was macht die Lehrkraft? Welche Rolle spielt dann auch wieder die soziale Ungleichheit zuhause – oder die technische Ausstattung, die Leistung des Internetanschluss. Bei den Schüler:innen kommt nicht immer gleich viel an oder kann gleich gut nachgearbeitet werden.

Wenn der digitale Unterricht dem Präsenzunterricht sehr stark gleicht, ist es aber besonders anstrengend. Es ist in viel zu vielen Köpfen verankert, dass digitaler Unterricht genau dem Präsenzunterricht gleichen sollte. Spätestens vor den Klausuren wird man merken, wenn man die Schüler:innen nochmal abfragt, dass viel mehr Jugendliche weniger mitbekommen haben werden.

Hast du den Eindruck, dass die Leistungsunterschiede sich unter den momentan Bedingungen vergrößert haben?

Die Leistungsstarken Schüler:innen haben sich auch im Distanzunterricht stark beteiligt. Das sind aber die zwei bis drei Schüler:innen, die auch im Präsenzunterricht schon aufgefallen sind. Beim Rest sieht man teilweise Hemmungen. Zum Beispiel auch, wenn es darum geht, die Kamera anzumachen. Man hat keinen Menschen, den man so anblicken kann, wie im Unterrichtsraum. Es ist kein "fester Blick" möglich.

Im Präsenzunterricht führe ich auch dadurch einen Dialog, dass ich meine Lehrerin angucke und dann meine Mitschülerin, aber beim digitalen Distanzunterricht fühlt es sich so an, als würde ich einem Telefonat, einem Monolog zuhören. Man kann die Reaktionen der anderen nicht wirklich sehen. Man bekommt viel weniger gespiegelt, ob das, was man gerade gesagt hat richtig ist oder komplett neben der Spur, weil so viele Reaktionen nicht wahrnehmbar sind.

Also fehlt die direkte Interaktion, die Mimik, der unbeschwerte Austausch. Fühlst du dich denn auch in deiner Privatsphäre gestört, wenn du für den Digitalunterricht die Kamera anmachen musst? Dadurch können ja auch Schüler:innen dein Zuhause sehen, mit denen du dich sonst nicht treffen würdest.

Das ist kein Problem. Das kann man einstellen. Bei den meisten Programmen kann man Hintergründe einstellen oder ihn verwischen. Das ist nicht so ein Drama.

Was ich aber schon mitbekommen habe ist, dass gerade in den jüngeren Jahrgängen in Videokonferenzen Fotos von Mitschüler:innen gemacht wurden und daraus dann Memes entstanden sind.

Ich kenne Schulen, die für so etwas eine Netz-Etiquette eingeführt haben.

Ich mache die Erfahrung, dass viele Lehrer:innen denken, dass angemessenes Verhalten im digitalen Unterricht eine Selbstverständlichkeit ist, aber die meisten Schüler:innen haben dafür noch kein Gefühl oder wissen nicht über Rechte und Pflichten Bescheid. Ich würde das mit Tischmanieren vergleichen. Ich muss auch erst einmal lernen, zwei Stunden ruhig am Tisch zu sitzen. Im Normalfall muss ich das ja nicht. Ich würde eher zwei Stunden Fußball spielen. Es wird aus meiner Sicht da viel zu sehr von Selbstverständlichkeiten ausgegangen, die es so gar nicht gibt.

Würdest du dir denn weiterhin Digitalunterricht wünschen – zum Beispiel auch als Option, wenn Schüler:innen in normalen Schuljahren länger krank sind?

Auf jeden Fall – man sollte das nicht wieder zurückdrehen und nun auch entsprechend den Unterricht reformieren. Die Erwartungen, die an diesen Unterricht gestellt werden, sind momentan nicht richtig. Der Digitalunterricht sollte als eine Art Ergänzung zum Präsenzunterricht gesehen werden. Digitalisierung heißt nicht, dass Präsenzunterricht gleich Digitalunterricht ist, sondern dass ich meine Unterlagen in der Cloud lagern und zusammen vernetzt Sachen bearbeiten kann.

Zum Abschluss. Was sind deine wichtigsten Forderungen für dieses Pandemie-Schuljahr und die kommende Zeit?

Ganz klar: Aussetzung der Unterrichtsbewertung, so wie sie gerade vorgenommen wird, die Dezentralisierung der Abitur-Prüfungen, und dass auf die Gesundheit der Schüler:innen geachtet werden muss.

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(kbe)