Missing Link: Nützes Gedöns (III.) – Digital Detox im Newsroom

Seite 5: Das erste Detox

Inhaltsverzeichnis

Problematisch war auch, dass ich meine Meldungen nicht selbst mit Details eigener Nachrichten aus unserem Archiv überprüfen und anreichern konnte, denn das gibt es nur online; die Aufgabe übernahmen Kollegen für mich. Sie schauten auch für diese maschinengeschriebene Geschichte nach, ob und inwiefern das Thema "digitale Entgiftung" oder "Digital Detox" für heise online schon einmal eine Rolle gespielt hatte.

Dabei stießen sie auf eine Meldung zur "Tech Open Air" im Jahr 2014 in Berlin (Danke, mho, für den Link.), in dem davon die Rede war, dass eine "bekennende Online-Abhängige ihren Zwangsgriff zum Handy und vergleichbare Aktionen vieler Zeitgenossen mit elektronisch aufgerüstetem Schmuck bekämpfen wollte, der per Bluetooth mit dem Smartphone ständig in Verbindung steht und mithilfe einer Filtersoftware nur noch die gerade wichtigen Kontakte und Kommunikationswünsche durchlässt". Diese bekennende Online-Abhängige hatte dafür die Firma Kovert Designs gegründet. Mittlerweile ist die Website der Firma, der seinerzeit in dem heise-online-Artikel verlinkt war, nicht mehr erreichbar. (Danke, axk, fürs Nachschauen) Offenbar hatten inzwischen andere den Markt abgegrast.

Als ich mir vor zwei Jahren die Smartwatch zugelegt hatte, war eines meiner Kaufmotive, den "Zwangsgriff zum Handy" zumindest einzuschränken. Mit einem Wisch und einem Fingertipp war es leicht, die Funktion "nicht stören" zu aktivieren. Es gelang mir mit dem Gerät, öfters "abzuschalten". Da die Smartwatch Schritte allein zählen kann, was mir als technik- und statistikaffiner Mann einen zusätzlichen Bewegungsanreiz liefert, lag es auf langen Spaziergängen nahe, das Smartphone zuhause zu lassen und offline durch die Welt zu wandeln. Wenn ich dann aber wiederkehrte, griff ich als erstes zum Mobiltelefon, da mich nach diversen Kilometern die Neugierede nach den inzwischen möglicherweise eingegangenen Nachrichten überwältigte.

Angeblich gibt es eine Gegenbewegung zur allgegenwärtigen Digitalisierung namens Digital Detox. Ihr gehe es nicht unbedingt darum, komplett auf das Internet zu verzichten, sondern den Umgang damit möglichst einzuschränken und bewusst zu halten. Dabei wird gerne das Modewort Achtsamkeit gebraucht. Die Anhänger der Bewegung geben Tipps wie den, sich einen Wecker zuzulegen, um für dessen Zwecke nicht das Smartphone zu bemühen, das dann vorm Einschlafen und dann die ganze Nacht in Griffweite liegen würde. Und vermeintlich gewiefte Geschäftemacher bieten Smartphone-Apps an, die bei der digitalen Enthaltung helfen sollen. Sie hätten mich höchstens dazu gebracht, neugierig auf meine "Offline-Statistik" zu werden und deshalb öfters mal das Gerät anzuschalten.

Nun bin ich offline. Verwandten und Freunden habe ich zuletzt geschrieben, dass ich fortan nur noch telefoniere. Ihre Adresse und Telefonnummern habe ich mir aus dem Smartphone exportiert und ausdruckt. Ich schaue morgens nicht mehr in den "DB Navigator", um zu wissen, ob mein Pendlerzug von Bremen nach Hannover pünktlich fährt, ich fahre einfach zum Bahnhof; nicht mehr mit der Straßenbahn, in der ich sonst immer schon mit dem RSS-Reader die Nachrichtenlage überschaute, sondern mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Im Zug klappe ich nicht mehr für die ersten Meldungen das Notebook auf, sondern raschele – als einer der wenigen – mit der Zeitung oder schlafe.

Ich drücke in meiner Wohnung neuerdings wieder Lichtschalter und bin zum seriellen Fernsehen zurückgekehrt, denn Netflix und Co. fallen ja aus. Kinofilme beurteile ich selbst und im Gespräch mit meiner Begleitung, ohne Hilfe der IMDB. Ich lese Videotext – in der ersten Zeit meines digitalen Entzugs abends alle Seiten. In der Küche plärrt morgens nicht mehr der Sprachassistent, sondern ein Radio. Abends klingelt mein Telefon; seit langer Zeit wieder führe ich Telefongespräche. Ich verlasse mich auf mein Gedächtnis. Wie das Wetter wird, entnehme ich einem Blick aus dem Fenster.

Noch eine Woche soll das Experiment laufen. Meine Kollegen werden sich freuen, dass ihnen dann die Mehrarbeit wieder genommen wird, die ich ihnen verursacht habe, und das Gerattere endlich aufhört. Ich werde hoffentlich nicht versuchen, die Mitglieder der Digital-Detox-Selbsthilfe in eine Whatsapp-Gruppe zu stecken. (anw)