Tempolimit-Warner wird Pflicht: Der Murks-Melder

In Neuwagen ist ab Juli ein Assistent vorgeschrieben, der Fahrer auf eine Überschreitung des Tempolimits hinweisen soll. Die gute Idee ist bescheiden umgesetzt.

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Kombiinstrument, Verkehrszeichenerkennung

(Bild: Franz)

Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Als im April 1951 der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl unterzeichnet wurde, waren die Architekten sich in einem Punkt einig: Nie wieder sollte es auf europäischem Boden Krieg geben. Aus Gegnern sollten Handelspartner werden, die in Frieden dauerhaft miteinander leben, so die Vision. Was im Detail Jahrzehnte später von Bürokraten teilweise aus dieser Idee gemacht wurde – und wird – kann einem Tränen übers Gesicht laufen lassen. Längst wird das Friedensprojekt von einem gewissen Anteil der Bürger als ein unüberschaubarer Wust an zum Teil unnötigen Vorschriften wahrgenommen. Eine Kritik, die fraglos nicht in jedem Fall tatsächlich gerechtfertigt ist. Doch mit Vorgaben wie der neuerdings gesetzlich geforderten Warnung bei einer Überschreitung des Tempolimits machen sich die Verantwortlichen auf beiden Seiten keine Freunde.

Ein Kommentar von Martin Franz

Martin Franz ist der stellvertretende Chefredakteur von heise/Autos. Das berufliche Schrauben hat er hinter sich gelassen, um sich Thema Mobilität auf andere Art und Weise widmen zu können: beschreibend. Die Begeisterung für das Auto hat sich verändert, ohne abzunehmen.

Dabei war die Idee sicher gut gemeint. Ein nicht angepasstes Tempo gehört zu den Hauptursachen für Unfälle. Davon gibt es reichlich, auch wenn die Zahl derjenigen, die bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen, seit Jahrzehnten rückläufig ist. Es spricht also viel dafür, Tempolimits durchzusetzen. Da die Kontrolldichte der Polizei niemals flächendeckend engmaschig erfolgen kann, liegt die Idee nahe, Autofahrer anders auf ein zu hohes Tempo aufmerksam zu machen. Deshalb ist ab dem 7. Juli 2024 für alle erstmals in der Europäischen Union zugelassenen Autos eine Warnung vorgeschrieben, die bei einer Überschreitung eines Tempolimits erfolgt – visuell und akustisch. Bei jedem Neustart des Autos muss sie wieder aktiv sein. Nun wird es Autofahrer geben, die es übertrieben finden, wenn schon bei einer Überschreitung von einem km/h eine Warnkaskade losgetreten wird. Doch ein Limit bedeutet auch, innerhalb der Grenze zu bleiben. Bis wohin sollte eine Überschreitung auch tolerabel sein?

Kritik verdient meines Erachtens ein anderer Umstand, den die Verfasser der neuen Vorschrift leichten Glaubens in die Hände der Industrie gelegt haben. So ist das Vorhandensein der "Intelligent Speed Assistance" (ISA) vorgeschrieben, wie zuverlässig sie funktioniert, allerdings nicht. Testwagen zeigen fast die komplette Bandbreite an Qualitäten, wobei mir noch kein System untergekommen ist, was absolut verlässlich arbeitet. Ein paar Hersteller, darunter Mercedes und BMW, sind diesbezüglich auf einem vielversprechenden Weg. Hier ist die ISA trotz gelegentlicher blinder Flecken wirklich eine Entlastung, zumal schließlich auch der Mensch am Steuer nicht perfekt ist. Doch diese Hersteller repräsentieren nicht den Schnitt, sondern sind die absolute Ausnahme. In den meisten Testwagen ist die Fehlerrate derartig inakzeptabel hoch, dass die Assistenz nicht nur nicht hilft, sondern rasch ignoriert wird. Ich schätze, in meinem privaten Corsa-e liegt die Anzeige in etwa 30 Prozent der Fälle richtig. Sich auf ein solches System einzulassen hieße, russisches Roulette mit dem Führerschein zu spielen.

Oft geht es nur noch darum, wie barrierearm der nervende Murks abzuschalten ist. Bei Mercedes liegt der Button dafür auf der obersten Ebene, bei einigen anderen Herstellern muss sich der Fahrer dafür in die Tiefen des Infotainmentsystems begeben – und zwar bei jedem Neustart. Die Alternative ist, sich auf der Fahrt x-Mal anbimmeln zu lassen, ohne dass es dafür eine Notwendigkeit gäbe. In der aktuellen Form ist das Vorhaben, den Fahrer auf Tempoverstöße hinzuweisen, sicher gut gemeint. In der Praxis funktioniert das in vielen Autos so mies, dass dafür garantiert weder den Verantwortlichen in der EU noch den Herstellern die Herzen zufliegen werden. Dass sie sich die Verantwortung für den Pfusch gegenseitig zuschieben können, macht es nicht besser. Dem Friedensprojekt Europäische Union erweisen sie damit einen Bärendienst und liefern einen weiteren, wenn auch sehr kleinen Baustein zum Erstarken jener Kräfte, die sich des Frusts bedienen, um alles niederzureißen, was in den vergangenen Jahrzehnten mühevoll aufgebaut wurde. Und das zu einer Zeit, zu der die europäische Gemeinschaft vor nie dagewesenen Herausforderungen steht.

(mfz)