Motorrad BMW R 12 S im Test: Miss Bavaria
Die BMW R 12 S vereint überzeugend Komfort und Dynamik und hält, was ihre auffällige Optik verspricht. Nicht billig, aber trotz ein paar Zicken jeden Euro wert.
(Bild: Ingo Gach)
- Ingo Gach
Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass die R 12 S das schönste Boxer-Straßenmodell ist, das BMW je gebaut hat. Den Titel zur "Miss Bavaria" hätte sie bei einer Wahl sicher. Die R 12 S kommt außerordentlich elegant daher und nimmt enge Anleihen bei der legendären R 90 S aus den frühen 70er-Jahren, der ersten BMW, die einen serienmäßigen Windschutz hatte und sagenhafte 200 km/h erreichte. Dabei steckt unter der betörenden Schale der R 12 S eigentlich eine normale R 12 NineT, die mit vielen hübschen Teilen aus dem BMW eigenen Zubehör ausstaffiert wurde. Exklusiv ist bei der R 12 S einzig die orange Lackierung. Dass BMW sie als eigenständiges Modell anbietet, geht angesichts des überzeugenden Gesamtpakets in Ordnung.
Betörende Schönheit
Schon lange nicht mehr war ich auf einen Test so gespannt wie auf den der R 12 S und wurde nicht enttäuscht. In natura wirkt sie sogar noch betörender als auf den Fotos, egal aus welchem Winkel ich sie betrachte. Da stimmen die Proportionen und jedes Detail zeigt die Akribie, mit der die Entwickler vorgegangen sind. Als erstes natürlich die Cockpitverkleidung, die beim Einlenken mitschwenkt.
Sie umrahmt den klassischen Rundscheinwerfer, der nicht nur Tagfahrlicht, sondern auch adaptives Kurvenlicht bietet. Das kurze Heck wird von einem Höcker abgeschlossen. Ein knapper Kotflügel mit einer attraktiven Aluminiumhalterung schmückt das Vorderrad. Die beiden übereinander angeordneten Endschalldämpfer entsprechen zwar genauso wenig dem historischen Vorbild wie die Lenkerendenspiegel, wirken heute aber stylisch. Mein persönliches Highlight sind jedoch die Drahtspeichenfelgen aus gefrästem Aluminium, die für sich schon ein kleines Kunstwerk sind. Die R 12 S ist in auffälligem "Lavaorange" lackiert mit einigen Applikationen in gebürstetem Aluminium – zumindest am Tank ist es sogar echt.
BMW R 12 S I (8 Bilder)

Ingo Gach
)Gelungene Sitzposition
Ob der schöne Schein auch hält, was er verspricht, soll sich im Test zeigen. Die Sitzposition ist schon mal gelungen, ich hocke in nur 795 mm Höhe auf der flachen, aber gut gepolsterten Bank. Eigentlich handelt es um eine Zweipersonensitzbank, der Höcker ist nur aufgesteckt, aber wenn ich ihn entferne, müsste ich auch die mitgelieferten Soziusfußrasten montieren. Für Körpergrößen von ungefähr 1,65 bis 1,90 m passt die R 12 S. Der Lenker erweist sich als sehr breit und weit nach hinten gekröpft, um die Distanz über den 16-Liter-Tank nicht zu groß werden zu lassen. So muss ich den Oberkörper nur leicht nach vorn beugen. Die gefrästen Fußrasten sind nicht zu hoch positioniert, sodass sich ein entspannter Kniewinkel ergibt.
Keyless Entry, aber Lenkerschloss
Was ich zunächst für ein Zündschloss halte, entpuppt sich als Lenkerschloss, die R 12 S verfügt über Keyless Entry, allerdings muss auch das Tankschloss ganz altmodisch mit einem Schlüssel geöffnet werden. Zwei Rundinstrumente im klassischen Look zeigen analog die Geschwindigkeit und Drehzahl an, je ein kleines LC-Display bietet noch weitere Informationen. Am typischen Klang des Boxers hat sich zum Glück nichts geändert, er hält sich aber mit 90 dB(A) vornehm zurück.
Der 1170 cm3 große, luftgekühlte Motor ist ein alter Bekannter seit 2004, er leistet inzwischen 109 PS bei 7000/min. Viel beeindruckender sind aber die maximalen 115 Nm bei 6500 Touren: Der Motor baut schon früh mächtig Drehmoment auf und schiebt kräftig an. In der Disziplin "satter Durchzug" machen ihm auch viele moderne Motoren nichts vor.
Angenehme Begleiterin
Das kommt der R 12 S schon im Stadtverkehr zugute, sie kann sehr schaltfaul bewegt werden, selbst den sechsten Gang bei Tempo 50 erträgt sie klaglos. Im Road-Modus – sie bietet auch noch die Modi "Rain" und "Dynamic" an – fühle ich mich gut aufgehoben, der Motor setzt seine volle Leistung frei, ohne hektisch zu wirken. Die R 12 S erweist sich als angenehme Begleiterin, ihre 220 kg Leergewicht machen sich beim Abbiegen kaum bemerkbar, sie lässt sich ohne Kraftaufwand dirigieren. Obwohl die Fahrwerksgeometrie der R 12 S mit 1511 mm Radstand, einem Lenkkopfwinkel von 62,3 Grad und einem Nachlauf von 111 mm eher in Richtung Stabilität getrimmt ist, erweist sie sich als noch recht handlich, wohl nicht zuletzt ein Verdienst des breiten Lenkers. Als einziges Manko fallen mir die etwas zu kleinen geratenen Lenkerendenspiegel auf, sie zeigen nur wenig vom nachfolgenden Verkehr.
Fahrwerk funktioniert exzellent
Ob die R 12 S hält, was ihr sportlicher Look verspricht, möchte ich auf der Landstraße herausfinden. Es wird bald sehr kurvig und etwas holprig, ein erster Härtetest für das Fahrwerk. Vorn verrichtet eine voll einstellbare Upside-down-Gabel auf 120 mm Federweg ihre Arbeit. Druck- und Zugstufe lassen sich per Schraubendreher oben auf den Gabelholmen in zehn Stufen justieren. Nett ist der dort eingefräste Hinweis "1 turn = 1 mm". Das Federbein bietet ebenfalls 120 mm Federweg, die Zugstufe ist einstellbar und die Vorspannung lässt sich über ein praktisches Handrad variieren. Das Fahrwerk der R 12 S funktioniert exzellent. Es filtert feinfühlig alle Löcher und Wellen des Asphalts und trägt den Fahrer wie auf Wolken, selbst übles Kopfsteinpflaster kann die BMW nicht in Verlegenheit bringen.
BMW R 12 S II (7 Bilder)

Ingo Gach
)Sie kann auch Sport
Die eigentliche Überraschung ist, dass die R 12 S gleichzeitig auch die sportliche Gangart beherrscht, sie ist weit davon entfernt, zu weich ausgelegt zu sein oder gar zu schaukeln. Sie lässt sich präzise einlenken und hält selbst bei forciertem Kurventempo unerschütterlich die Linie. Dabei harmoniert die BMW bestens mit den sehr haftfreudigen Metzeler Sportec M9 RR, vorn in 120/70-17, hinten in 180/55-17. Allerdings haben die Fußrasten in extremer Schräglage schon mal hässlich lautstarken Bodenkontakt. Zucken im Lenker kennt der Retro-Sportler nicht, dank des serienmäßigen Lenkungsdämpfers.
Präzises Gefühl für das Vorderrad
Es macht einen Heidenspaß, die R 12 S kurz vor der Kurve mithilfe der beiden radial montierten Brembo-Vierkolbenbremssättel, die bei Bedarf brachial verzögern, zusammenzustauchen, blitzschnell umzulegen, sehr schräg durch den Radius zu segeln und mit viel Druck aus dem Drehzahlkeller aus der Kurve zu beschleunigen. Das Gefühl für das Vorderrad ist sehr präzise und lässt einen nie im Unklaren über seine Aktivität. Einzig das Gasanlegen in Schräglage im Modus "Dynamic" sollte mit viel Gefühl im Handgelenk passieren, denn die Lastwechsel sind bei der Drehmomentattacke sonst deutlich spürbar, denn der Kraftfluss zum Hinterrad erfolgt selbstverständlich über einen Kardanantrieb in der Einarmschwinge. Ich habe deshalb im Laufe des Tests meist den Modus "Road" bevorzugt, der das Gas merklich sanfter annimmt. Die schräglagensensitive Schlupfregelung regelt dabei feinfühlig die Kraftspitzen im Hinterrad weg. Umgekehrt sorgt das Kurven-ABS für Sicherheit, wenn mal in Schräglage verzögert werden muss.
Echte LandstraĂźenbrennerin
Die R 12 S ist nicht etwa nur eine schöne Diva, sondern auch eine wirklich gute Landstraßenbrennerin. Wer will, kann auf ihr erstaunlich flott durch Kurven aller Art reiten, dabei verhält sie sich stets sicher und berechenbar. Kommen wir zum Autobahnverhalten. Die R 12 S rennt maximal 215 km/h, was allerdings nicht angenehm ist. Das liegt nicht am Fahrwerk – Pendeln ist für sie ein Fremdwort –, sondern am mangelnden Windschutz. Die Cockpitverkleidung sieht zwar bildschön aus, ihre Schutzfunktion gegen den Fahrtwind tendiert aber gegen null, weil sie sehr niedrig platziert ist und der dunkel getönte Windschild niedrig ausfällt. Bis Tempo 150 lässt es sich noch aushalten, darüber wird der Winddruck heftig und die Nackenmuskeln arg strapaziert.
Kleine Zicken
BMW spendierte seinem Retro-Boxer eine wirklich gute Serienausstattung, neben den bereits erwähnten Features verfügt sie zudem über Kurvenlicht, Tempomat, Berganfahrhilfe, Heizgriffe und die beiden teuren Frästeile-Pakete I und II. Doch wie jede echte Diva zeigt auch die R 12 S ein paar Zicken. Beim morgendlichen Kaltstart dreht der Boxer im Leerlauf ungebührlich hoch auf 2500 Touren und bleibt auf den ersten hundert Metern dabei, sodass mit arg schleifender Kupplung gefahren werden muss. Dann sinkt die Drehzahl zwar auf Normalpegel, aber auf den nächsten hundert Metern ruckelt der Motor störrisch und möchte nicht richtig Gas annehmen. Erst danach beruhigt er sich und verrichtet brav seine Arbeit.
Der zweite Kritikpunkt betrifft den serienmäßigen Quickshifter, der in den unteren Gängen sehr ruppig agiert und harte Schläge ins Getriebe und Fahrwerk austeilt. Ich benutzte schließlich bald nur noch die Kupplung. Der dritte Tadel geht an die nicht vorhandene Tank- oder Restreichweitenanzeige. Bei einem Verbrauch von 5,1 Liter auf 100 km kommt die R 12 S zwar ordentliche 314 km weit, aber der Fahrer wird erst von einem Tanksymbol im Cockpit gewarnt, wenn nur noch rund drei Liter im Spritbehälter schwappen.
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Miss Bavaria
Auch wenn die Retro-Welle eigentlich vorbei ist, wird sich die R 12 S bestimmt gut verkaufen, bei ihr dürften nicht nur Nostalgiker schwach werden. Der Kunde bekommt ein ausgesprochen schönes Motorrad, das eine Menge Aufmerksamkeit erregt. BMW setzt ihren Listenpreis auf 22.000 Euro. Das ist teuer, immerhin aber noch günstiger, als die R 12 NineT (17.410 Euro) als Basis zu nehmen und sämtliche Zubehörteile dazuzukaufen, die bei der R 12 S Serie sind. Allein die herrlichen Felgen würden als Zubehör schon 2355 Euro kosten. Außerdem fragt man eine Diva nicht nach ihrem Preis.