Test Yamaha Ténéré 700 World Raid: Manchem zu hoch

Seite 2: Brillanter Zweizylindermotor

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Die Ténéré 700 World Raid läuft schon beim Kaltstart sauber rund. Ihre Kupplung verlangt nur minimale Handkräfte und der erste Gang rastet problemlos ein. Als absolutes Sahnestück erweist sich einmal mehr der CP2-Motor. Schon auf den ersten Meter vermittelt mir der Zweizylinder das subjektive Gefühl, mit viel mehr als nur 73 PS und 689 cm3 Hubraum unterwegs zu sein. Er zieht gefühlt linear durch und dreht spontan hoch bis zur Nenndrehzahl von 9000/min. Obwohl die World Raid mit 220 kg Leergewicht immerhin 13 kg mehr als die Basis-Ténéré wiegt, drückt der Motor sie vehement vorwärts. Am wohlsten fühlt sich der CP2 aber im mittleren Drehzahlbereich, hier schnurrt er selbstbewusst vor sich hin, wird nie zu laut und vermittelt dennoch eine angenehme Akustik.

Der Windschutz auf der Ténéré 700 World Raid ist gut, ich sitze entspannt, das Windschild ist etwas höher als an der normalen Ténéré und zudem sind seitliche Windabweise angebracht, die sich sogar abnehmen lassen. Die Übersichtlichkeit des senkrecht stehenden TFT-Displays ist vorbildlich. Die Yamaha gibt sich mit einem Radstand von 1595 mm – fünf Millimeter mehr als beim Standardmodell – nicht übertrieben handlich, aber lässt sich dennoch ohne großen Kraftaufwand einlenken. Je leerer die beiden Tank sind, desto einfacher wird es.

Ein 18-fach einstellbarer Lenkungsdämpfer von Öhlins soll zusätzlich für Ruhe sorgen. In der Kurve liegt die Yamaha neutral und stets berechenbar. Der Pirelli Scorpion Rally STR erweist sich als erstaunlich haftfreudig auf Asphalt, dabei hat er ein durchaus grobes Profil. Auch die Bremskräfte überträgt der Reifen zuverlässig, wenn die Bremszangen vorne auf die 282 mm großen Bremsscheiben beißen, hinten unterstützt eine 245 mm große Scheibe. Allerdings muss man immer im Hinterkopf behalten, dass die Ténéré 700 World Raid bei harten Bremsmanövern vorn weit eintaucht.

Obwohl die Yamaha auch eine flotte Gangart verträgt, ist sie eher für das genussvolle Gleiten gedacht, wie es das Konzept der Fernreise-Enduro vorsieht. Im höchsten Gang die maximalen 68 Nm Drehmoment bei 6500/min ausnutzend, cruise ich stundenlang über die Landstraßen, während sich die Tankanzeige so gut wie nicht bewegt. Ich suche mir schließlich bewusst kleine Nebenstrecken mit Löchern, Rissen und Flicken im Asphalt aus und die Yamaha dankt es mir mit einem sänftenartigen Komfort und viel Fahrspaß.

Yamaha Tenere 700 World Raid (9 Bilder)

Yamaha stattet die Ténéré World Raid mit neuen Federelementen aus. Die Gabel arbeitet auf 230 mm, das Federbein hinten auf 210 mm Federweg.
(Bild: Ingo Gach)

Vibrationen kennt sie so gut wie nicht, selbst lange Etappen absolviere ich fast ermüdungsfrei, dank der angenehmen Sitzergonomie und die Sitzbank ist bequemer als sie aussieht. Im Gelände schlägt sich die Ténéré 700 World Raid beachtlich, trotz ihrer 220 kg Leergewicht. Die langen Federwege des voll einstellbaren Fahrwerks lassen sie selbst über holprige Pisten schweben. Um die Yamaha an ihre Grenzen zu bringen, müsste man sie schon auf einem Motocross-Gelände bewegen, aber wirklich erst dort würde die etwas weiche Gabel vermutlich an ihre Grenzen stoßen.

Allerdings erweist sich die World Raid wegen des riesigen Tanks als sehr kopflastig, das Anheben des Vorderrads vor Hindernissen gelingt nur mit viel Gas und Körpereinsatz. Ein dreiteiliger Motorschutz aus Aluminium sorgt an der World Raid dafür, dass harter Kontakt mit Gesteinsbrocken keine Schäden hinterlassen. Erfreulich für Wüstenfüchse: Yamaha hat den Einlasskanal des Luftfilterkastens nun nach vorne gerichtet, um das Eindringen von Sand und Staub besser zu verhindern.

Um den Schwerpunkt nicht zu weit nach oben wandern zu lassen, teilten die Entwickler den Tank und zogen die beiden Hälften weit nach unten. Dazwischen verlegten sie eine flacher gestaltete Sitzbank, wirklich weit nach vorne rutschen kann man aber wegen des breiten Tanks auf ihr nicht. Die Yamaha bietet rundum LED-Beleuchtung, die beiden kleinen Scheinwerfer strahlen nachts dunkle Landstraßen sehr gut aus.

So gut die Ténéré 700 World Raid sowohl auf Landstraßen, als auch Offroad funktioniert, gibt es doch einen Kritikpunkt, den Yamaha unbedingt nachbessern sollte: Die Bedienung des TFT-Menüs über ein kleines Drehrädchen rechts am Lenker. Bei einem Sturz im Gelände bohrt sich der Lenker schon mal tief in den Schlamm und in der Wüste dringt feiner Sand in jegliche Ritze. Beides wird dazu führen, dass das kleine Rädchen sich zusetzt und irgendwann nicht mehr drehen lässt. Dann ist es mit der Bedienung des Menüs vorbei.

Doch alleine die Anbringung des Drehrädchens rechts am Lenker wirft ein rein praktisches Problem auf. Der Versuch, es während der Fahrt mit dem Daumen zu bedienen, verursacht unweigerlich Bewegungen am Gasgriff, was zu Motorruckeln führt. Zudem drehe ich regelmäßig das empfindliche Rädchen versehentlich zu weit, so dass der anvisierte Menüpunkt übersprungen wird.

So richtig nervig wird es, wenn man für die Fahrt im Gelände das ABS abstellen will. Das ist nur im Stand möglich und ein langer Druck auf das Drehrädchen notwendig, dann erscheint unten im Display ein weiteres Menu. Nun muss am Rad gedreht werden, um den Punkt "ABS" auszusteuern. Jetzt muss auf einen der drei ABS-Modi gescrollt und der gewünschte mit einem kurzen Druck auf das Rädchen ausgewählt werden. Zur Bestätigung, dass das ABS auch wirklich ausgestellt werden soll, muss dann noch ein langer Druck erfolgen. Intuitiv geht anders. Wenn der Motor ausgestellt wird, aktiviert der Computer beim Neustart automatisch wieder das ABS und die gesamte Prozedur muss von vorne erfolgen. An der bisherigen Ténéré 700 gab es einen simplen Knopf im Cockpit mit dem das ABS deaktiviert werden konnte. An der World Raid geht Yamaha den umgekehrten Weg und installiert einen Knopf an der Innenverkleidung, um das ABS wieder zu aktivieren.

In der Praxis erreicht die Ténéré 700 World Raid tatsächlich 500 km Reichweite, vorausgesetzt der Fahrer nutzt die möglichen 186 km/h Höchstgeschwindigkeit nicht allzu oft aus (was ja eh kein Mensch macht). Vorsicht: Mit den serienmäßig aufgezogenen Pirelli Scorpion Rally STR ist dies ohnehin nicht zulässig. Ein kleiner Aufkleber am Lenker ermahnt, dass nicht schneller als 170 km/h mit dem grobstolligen Profil gefahren werden darf.

Wer an die Tankstelle muss, sieht sich mit dem Problem der zwei Tankdeckel konfrontiert. Praktisch wäre es, beide Tankdeckel zu öffnen, um beim Befüllen mit einem kurze Lupfer der Zapfpistole vom ersten zum zweiten Tank zu wechseln. Jedoch lässt sich der Zündschlüssel nur im geschlossenen Zustand vom Tankdeckel abziehen. Das bedeutet, in der einen Hand jongliert man die Zapfpistole, während man mit der anderen umständlich den ersten Deckel verriegeln und den zweiten Deckel aufschließen muss.

Die Ténéré 700 World Raid gibt es für 12.874 Euro inklusive Nebenkosten. Dafür erhält der Käufer eine außerordentliche Enduro, die nicht nur mit ihrem guten Fahrwerk, sondern auch mit einer extremen Reichweite beeindruckt. Sie tritt in die großen Fußstapfen der legendären XT 600 Z Ténéré und kann sie sogar ausfüllen.

Wer durch die Sahara fahren will, sollte zur World Raid greifen, für alle anderen Gelegenheit reicht die normale Ténéré 700 (Fahrbericht) mehr als aus.