Telegram erneut in der Kritik: Zwischen Verbrechen und Versprechen

Telegram steht immer wieder im Fokus der Aufmerksamkeit. Für Problemgruppen ist der Dienst hochattraktiv – doch die könnten sich in falscher Sicherheit wiegen.

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Telegram-App

(Bild: Sergei Elagin/Shutterstock.com)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Die in Russland gegründete und offiziell aus Dubai betriebene App Telegram ist seit Jahren hochumstritten und von Skandalen umweht. In dieser Woche veröffentlichte das ARD-Format Strg+F eine Folge zu Vergewaltiger- und Missbrauchsgruppen auf der Plattform, die stark an den Fall der über Jahre missbrauchten Französin Giselle Pelicot erinnern. In dem erging am Donnerstag das Urteil: 51 Schuldsprüche gegen die Täter.

Im Fall Pelicot war es nicht Telegram, sondern eine vordergrĂĽndig harmlos wirkende Chatwebsite namens Coco, die eine zentrale Rolle spielte und deren GrĂĽnder in Bulgarien festgenommen wurde.

Der Fall der Telegram-Gruppen, die die Reporter von Strg+F fanden, ist dabei nur einer in einer langen Reihe von Straftaten, in denen die Software eine verbindende Rolle spielt. Der Hauptgrund dafür: Viele Nutzer und wohl auch Täter fühlen sich dort sicher und anonym. Denn der Betreiber arbeitete lange Zeit aus Prinzip fast überhaupt nicht mit Behörden zusammen.

Telegram besteht im Kern aus zwei voneinander weitgehend getrennten Funktionen: Direktnachrichten zwischen zwei Empfängern oder Gruppen, in denen mehrere Teilnehmer kommunizieren können, und das Kanal-Feature, in dem wenige an viele senden können. Der Anbieter lässt zudem bewusst Bots zu: leicht erstellbare, automatisierbare Bots.

Was vorwiegend in den Chatgruppen passierte, führte bislang selten zu Konsequenzen. Der Verfolgungsdruck war äußerst gering. Telegram hat nach eigenen Angaben nahezu eine Milliarde Nutzer weltweit. Davon nutzt zwar ein großer Teil die App als Kurznachrichten-App, um mit Freunden und Verwandten zu chatten, Bilder zu senden oder Sprachnachrichten zu hinterlassen. Doch einige Nutzer haben anderes im Sinn.

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Im September 2024 entschuldigte sich Telegram in Südkorea dafür, nicht konsequent gegen DeepFake-Pornomaterial auf Basis von Fotos Minderjähriger auf seinen Servern vorgegangen zu sein. Im November gab Telegram den niederländischen Behörden Daten heraus, nachdem dort massive Anschuldigungen wegen der Nutzung durch Menschenschmuggler und Drogenhändler im Raum standen. Auch dem Bundeskriminalamt gab der Betreiber zumindest zeitweise Daten heraus.

Egal wohin man schaut, vom Koks-Taxi, WireCard, Krypto-Betrug, Terrorismus oder andere Straftaten: Telegram ist für Kriminelle aller Art offenbar derzeit das Werkzeug der Wahl. Statt umständlich über Darknetforen und -Marktplätze zu arbeiten, ist die Einfachheit von Telegram offenbar auch für sie verlockend. Das könnte sich in Zukunft als Geschenk für die Ermittler erweisen: Denn wo sich Täter zu sicher fühlen, begehen sie Fehler. Und die Nutzung von Telegram ist in diesen Fällen einer.

Denn im iOS-Store wird die Telegram-App zwar immer noch so beworben: "Wir nehmen deine Privatsphäre sehr ernst und werden es niemals Dritten erlauben, auf deine Daten zuzugreifen. Du kannst jede Nachricht, die du jemals gesendet oder empfangen hast, für beide Seiten, jederzeit und spurlos löschen." In Googles Play Store heißt es gar: "Alles bei Telegram, inklusive Chats, Gruppen, Medien, etc. ist verschlüsselt." Doch Telegramgruppen und -kanäle sind technisch alles andere als sicher: Der Zugriff auf das Endgerät eines Gruppenteilnehmers oder ein Einladungslink reicht meist aus, um an die Inhalte von Gruppen und Kanälen zu gelangen – zudem stellt Telegram für die Bots eh schon umfangreiche APIs zur Verfügung.

Wie sicher die von Telegram selbst zusammengebaute Verschlüsselung, überhaupt ist, ist immer noch unklar. Klar ist: sie funktioniert nur, wenn die Beteiligten einer Unterhaltung sie aktiv für Gespräche einschalten – und auch dann würde sie nur bei Konversation zwischen zwei Teilnehmern funktionieren.

Viele Nutzer glauben dennoch, dass Telegram dabei ein verschlĂĽsselter Messengerdienst sei. Also so etwas wie WhatsApp oder gar Threema, Wire oder Signal. Doch das stimmt auch jenseits der VerschlĂĽsselung nur zum Teil.

Denn auch rechtlich ist Telegram ein Zwitter: als Messenger, also als nummernunabhängiger Kommunikationsdienst, wie es im deutschen Telekommunikationsrecht heißt. Und, weil der Dienst Inhalte etwa für Gruppen und Kanäle auf seinen Server zwischenspeichert, auch als Plattformbetreiber. Solche unterliegen in der EU eigentlich den Regeln des Digital Services Act (DSA). Und der schreibt unter anderem vor, dass jeder Anbieter ab Kenntnisnahme eines womöglich illegalen Inhalts verpflichtet ist, zu prüfen, ob dieser entfernt oder gesperrt werden muss. Besondere Pflichten treffen eigentlich die größten Anbieter, die mehr als 45 Millionen Nutzer in der EU haben -- doch Telegram gab im Februar 2024 bekannt, es habe nur 41 Millionen monatlich aktive Nutzer in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Die EU-Kommission bezweifelt die Angaben und Berechnungsmethoden des Betreibers, abschließend geklärt ist der Sachverhalt aber auch nach fast einem Jahr noch nicht. Sollte Telegram jedoch offiziell die relevante Schwelle überschreiten, müsste es auch selbst wesentlich mehr tun, um durch das Design seines Dienstes auftretende Risiken einzuhegen und wäre unmittelbar unter Aufsicht der EU-Kommission.

Da Telegram selbst keine Betriebsstätte innerhalb der EU unterhält, hat es für den DSA einen rechtlichen Vertreter benannt, so wie es das Gesetz verlangt. In der Avenue Huart Hamoir 71 in Brüssel sitzt jene Firma, die Telegram auch nach der Datenschutzgrundverordnung als rechtlichen Ansprechpartner angegeben hat.

Seit Anfang Dezember arbeitet Telegram mit der Internet Watch Foundation in England, dem C3P und anderen Organisationen zusammen, die große Datenbanken mit Hashwerten bereits bekannter Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern betreiben. Ob die in den vergangenen Monaten deutlich gestiegenen Sperr- und Löschzahlen bei Telegram unmittelbar damit zusammenhängen, ist unklar. Telegram gibt an, zusätzlich eigene, KI-basierte Erkennungsmethoden einzusetzen.

Auffällig ist dabei der enge, zeitliche Zusammenhang zwischen vermehrter Zusammenarbeit mit Behörden und anderen Organisationen, Änderungen an den Nutzungsbedingungen Ende September 2024 und der vorübergehenden Festnahme des Telegram-Gründers Pawel Durow Ende August in Paris und der Aussetzung des Haftbefehls unter Auflagen vier Tage später, sowie der Anfrage des Recherche-Teams der ARD.

(emw)