Superbike Kawasaki ZX-10 R im Test: Weniger extrem als befürchtet
Ein Superbike, das sechsmal in Folge die WM gewonnen hat, kann sein Talent auf Straßen allenfalls sekundenlang aufblitzen lassen. Sein Antrieb ist eine Macht.
(Bild: Kawasaki)
- Ingo Gach
Auch als Motorjournalist hat man nicht jeden Tag die Gelegenheit, die Straßenversion einer lebenden Legende zu chauffieren. Die Kawasaki ZX-10 R hat von 2015 bis 2020 sechsmal in Folge die Superbike-WM gewonnen, immer mit Jonathan Rea im Sattel. Sie war zu ihrer Zeit einfach nicht zu schlagen. Auch das aktuelle Modell sorgt für gebührenden Respekt, denn wenn Kawasaki eines kann, dann starke Motoren bauen. Im Falle des 998-cm3-Reihenvierzylinders der ZX-10 R reden wir von 203 PS auf dem Leistungsprüfstand. Doch Kawasaki hat zwischen den beiden LED-Scheinwerfer noch eine große Öffnung für den "Ram-Air"-Lufttrichter gelassen. Wenn in freier Wildbahn der Fahrwind mit Macht in die Airbox drückt, verspricht Kawasaki gar 213 PS bei 13.200/min.
- Abgeleitet vom WM-Superbike
- Leistung: 157 kW bei 13.200/min, Drehkraft 115 Nm bei 11.400/min
- Höchstgeschwindigkeit 298 km/h
- Preis: 20.695 Euro
Überlegen im Drehmoment
Konkurrenzmodelle wie BMW M 1000 RR, Ducati Panigale V4 R, Honda CBR 1000 RR-R sind zwar mittlerweile bei 218 PS angelangt, doch haben sie gegen die in der Leistung schwächere ZX-10 R schlechte Karten. Bei einem überlegenen Drehmomentverlauf bietet die Kawasaki mit 115 Nm bei 11.400/min auch den höchsten Wert, da kann kein anderes Serien-Superbike mit einem Liter Hubraum mithalten. Zum Fahren ist das wichtiger als die im Prospekt hübsche Leistungsangabe. Was sie mir besonders sympathisch macht: Sie verzichtet auf die riesigen Winglets, die bei der Konkurrenz wie angepappte Flugzeugflügel aussehen. Die ZX-10 R setzt auf dezent in die Verkleidung integrierte Winglets, die das Design nicht verunstalten.
Nicht so extrem wie befürchtet
Ich schwinge mich also auf ein Motorrad, das für den Einsatz auf der Rennstrecke konzipiert wurde und möchte herausfinden, wie es sich im normalen Straßenverkehr schlägt. Auch wenn es bedeutet, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, gibt es immer wieder Menschen, die sich ein Superbike kaufen, aber nie auf einem permanenten Rundkurs fahren.
Dass die Sitzposition auf der ZX-10 R sportlich gerät, ist keine Überraschung, aber dennoch ist die Körperhaltung längst nicht so extrem wie befürchtet. Es lastet zwar spürbar Gewicht auf meinen Handgelenken, aber die Stummellenker sind nicht so ultratief platziert, dass es wehtun würde und sind außerdem angenehm weit nach außen gedreht, dass es mir das Einlenken erleichtert.
Hohe Sitzposition
Das Heck der ZX-10 R steht merklich hoch, 835 mm Sitzhöhe ist für ein Straßenmotorrad schon eine Ansage, aber auch das macht sich positiv auf das Handling bemerkbar. Okay, der Kniewinkel ist auf Dauer schon eng, Kawasaki hat die Fußrasten für die Rennstrecke so hoch platziert, dass sie auch bei extremer Schräglage nicht auf dem Asphalt aufsetzen. Hinter dem Windschild lässt es sich gut verkriechen, um bei über 200 km/h dem Sturm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Für das Protokoll: der Fahrzeugschein weist 298 km/h als Höchstgeschwindigkeit aus.
Vorbildlich schmaler Sitz
Unter mir befindet sich ein 17-Liter-Tank, der zwar vorn bauchig ausfällt, aber hinten einen guten und nicht zu breiten Knieschluss gewährt. Gleichzeitig ist das Sitzkissen vorn schmal geschnitten. Beim Hanging-off auf dem Rundkurs ist das für die Rennfahrer wichtig. Ein fünf Zoll großes TFT-Display liefert mir zumindest die wichtigsten Informationen – Geschwindigkeit, Drehzahl, Ganganzeige – gut ablesbar, die anderen fallen ziemlich klein aus. Über die Tasten am linken Lenkerende kann ich im Menü die festen Fahrmodi auswählen und, wenn ich denn wollte, im Rider-Modus alle möglichen Assistenzsysteme einstellen: unter anderem die Gasannahme, das Kurven-ABS, die Schlupfregelung, Motorbremsmoment und Launch-Kontrolle.
Kawasaki ZX-10 R (8 Bilder)

Kawasaki
)Unverkennbarer Sound
Genug ins Cockpit geguckt, ich starte den Motor. Der Sound ist unverkennbar ein Reihenvierzylinder: heiser und bei jedem Gasstoß hört man die Gier nach Drehzahlen, wobei er mit einem Standgeräusch von 95 dB(A) noch absolut stadtverträglich ist. Das Einlegen des ersten Gangs erfolgt halbwegs sanft, die Kupplung erfordert nicht viel Handkraft. Trotzdem benutze ich den Kupplungshebel danach nur noch selten, weil die ZX-10 R mit einem ausgezeichnet funktionierendem Quickshifter ausgestattet ist, der das Sortieren der Gänge in beide Richtungen schnell und ohne Schläge im Getriebe erledigt.
207 kg wollen aktiv bewegt werden
Ich bleibe zunächst im Road-Modus. Die Gasannahme erfolgt angenehm sanft und dennoch steht die volle Leistung zur Verfügung, was die Schlupfregelung in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Zum Glück ist es trocken und der Bridgestone Racing Street RS11 kommt nach einigen Kilometern endlich auf Temperatur, um genügend Grip für die Landstraßenhatz aufzubauen.
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Für schnelle Fortbewegung ist auf einem Superbike erhöhter Körpereinsatz nötig, allein schon aufgrund der vornübergebeugten Sitzhaltung. Die 207 kg Leergewicht der ZX-10 R wollen aktiv bewegt werden, extreme Agilität ist von einem 1000er-Superbike nicht zu erwarten, weil das auf der Rennstrecke schnell in Nervosität ausarten könnte. Mit einem Radstand von 1450 mm, einem Lenkkopfwinkel von 65 Grad und einem Nachlauf von 105 mm haben sich die Entwickler für die goldene Mitte zwischen Handlichkeit und sturem Geradeauslauf entschieden. Zudem bietet der mächtige Aluminiumrahmen große Stabilitätsreserven.
Trifft präzise die Linie
Die Kawasaki trifft präzise die anvisierte Linie und liegt in Schräglage absolut ruhig. Beim Herausbeschleunigen kann ich beherzt am Gasgriff ziehen, die Schlupfregelung verhindert spürbar ein Durchdrehen und Ausbrechen des Hinterrads. Dass der Superbike-Motor entschieden zu viel Leistung für den öffentlichen Straßenverkehr besitzt, versteht sich. Wenn ich auch nur den langen ersten Gang voll ausdrehen würde, wäre ich schon weit jenseits der auf Landstraßen erlaubten Höchstgeschwindigkeit. So befinde ich mich dort meist in den Gängen zwei bis vier im mittleren Drehzahlbereich. Zwar verträgt der Vierzylinder problemlos Tempo 100 im sechsten Gang ohne zu ruckeln, aber dafür ist er nicht gedacht.
Kawasaki ZX-10 R II (7 Bilder)

Ingo Gach
)Sensibles Fahrwerk
Überraschend ist, wie sensibel das voll einstellbare Fahrwerk mit seinen Komponenten von Showa Unebenheiten des Asphalts auf der Landstraße abfedert. Grundsätzlich ist die ZX-10 R natürlich straff abgestimmt, aber harte Schläge dringen eigentlich nicht durch. Es sei denn, ein großes Loch klafft in der Straßendecke, dann kommen die Federn mit ihren Arbeitswegen von 120 mm vorn und 115 mm hinten an ihre Grenzen. Kawasaki setzt bei den radialen Bremszangen am Vorderrad weiterhin auf die M50-Monoblock-Bremssättel von Brembo statt auf die neueren Stylema-Komponenten der gleichen Marke. Die Wirkung ist immer noch sehr beeindruckend. Allerdings verwundert es mich, dass die ZX-10 R nicht über Stahlflex-Bremsleitungen verfügt.
Road-Modus bevorzugt
Nachdem ich die ZX-10 R eine ganze Weile im Road-Modus über die Landstraßen gefahren bin, wechsele ich in den Sport-Modus. Der Reihenvierzylinder geht nun direkter ans Gas, was aber am Kurvenausgang auch mehr Unruhe ins Motorrad bringt. Die Assistenzsysteme lassen jetzt mehr Schlupf zu, verhindern aber immer noch zuverlässig brenzlige Situationen. Letztendlich entschließe ich mich, wieder in den Road-Modus zurückzukehren, weil er angenehmer zu fahren ist. Der Sport-Modus ist für Leute gedacht, die Rennstrecke fahren wollen, aber keine Lust haben, sich mit Feineinstellungen zu beschäftigen. Über den Temperaturhaushalt des Motors muss sich der Fahrer übrigens keine Sorgen machen. Die Kawasaki verfügt zusätzlich zur Flüssigkeitskühlung noch über einen Ölkühler – wie so vieles hat die ZX-10 R den genauso aus ihrem langjährigen Erfahrungsschatz im Rennsport übernommen wie den Lenkungsdämpfer von Öhlins.
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Für Rennstrecken die RR
Kawasaki bietet mit der ZX-10 R ein sehr interessantes Sportbike mit Leistung auf hohem Niveau. Wer allerdings ernsthaft Rennstrecke fahren will, greift bei Kawasaki gleich zur noch kompromisslosen ZX-10 RR. Sie verfügt unter anderem über längenverstellbare Ansaugtrichter für mehr Leistung im unteren Drehzahlbereich, Titan-Kolben und Pleuel, schärfere Nockenwellen, geänderte Übersetzung und Schmiedefelgen von Marchesini.
Bleibt die Frage, für wen die ZX-10 R sein soll. Das beantwortet der Preis. Sie ist für 20.695 Euro zu haben, die ZX-10 RR 29.995 Euro kostet. Fast 50 Prozent Aufpreis ist nur sinnvoll für Kawasaki-Fans, die Rennen fahren wollen. Alle anderen sind mit der ZX-10 R auf der Landstraße und bei gelegentlichen Rundkursbesuchen bestens bedient.