Motorrad Aprilia RS 660 Factory im Test: Mehr Spaß geht kaum
Die Aprilia RS 660 Factory hat mich begeistert: Mit "nur" 105 PS, gerade einmal 183 kg und dem grandiosen Fahrwerk hatte ich so viel Spaß wie nur selten.
(Bild: Ingo Gach)
- Ingo Gach
Ein Werksrenner für jedermann und dann noch günstig? Aprilia macht es mit der RS 660 Factory möglich. Die RS 660 mit 100 PS hatte vor vier Jahren die Renaissance der lange dahinsiechenden Sportmotorrad-Kategorie eingeläutet. Sie verkaufte sich vom Start weg erstaunlich gut, weil sie als 660er-Zweizylinder günstig war und dennoch unglaublich viel Spaß bereitete. Das Geheimnis lag in ihrer Handlichkeit und dem geringen Gewicht. Im Kielwasser ihres Erfolgs legten viele andere Marken ebenfalls schicke Sportler auf. Heute gibt es wieder eine breite Palette an Sportmotorrädern in der Mittelklasse, doch die neue RS 660 Factory übertrifft sie alle. Weniger wegen ihrer auf 105 PS gestiegenen Leistung, sondern vor allem, weil sie ein komplett einstellbares Fahrwerk des Herstellers Öhlins bietet. Nur ganz selten bin ich mit einem so problemlos zu fahrenden Motorrad so schnell auf der Rennstrecke unterwegs gewesen.
Beflügelt
Die RS 660 erfreut sich großer Beliebtheit – allein in Deutschland kam sie im vergangenen Jahr auf 1426 Neuzulassungen – und ist die meistverkaufte Aprilia im Motorradsektor. Sie besticht durch ein sehr gefälliges Design mit einem scharf geschnittenen Gesicht, das von V-förmig angeordneten LED-Lichtern geprägt ist. Die Factory kommt in den Aprilia-Traditionsfarben Schwarz und Rot daher, was ihr schon optisch eine gewisse Aggressivität verleiht. Seit diesem Baujahr hängen auch noch Winglets an der Vollverkleidung, inspiriert von der MotoGP, wo Aprilia recht erfolgreich mitfährt. Über die Ästhetik der Flügel lässt sich streiten, aber bei hohen Geschwindigkeiten erzeugen sie einen Abtrieb, der das Bike auf die Straße presst. Auch wenn man das einer 660er kaum zutraut, die Aprilia rennt 240 km/h.
Aprilia RS 660 Factory im Test I (7 Bilder)

Ingo Gach
)Nicht ganz unbequem
Es ist gar nicht mal so unbequem auf dem Sportler, weil die Stummellenker relativ hoch angebracht sind und der Abstand zum Sitz nicht sonderlich groß ist, sodass ich mich nicht allzu weit nach vorn beugen muss. Gewicht auf den Handgelenken spüre ich so nur im Stop-and-go-Verkehr. Selbst der Kniewinkel ist bei 1,75 m Körpergröße nicht übertrieben eng, obwohl die Aluminiumfußrasten sportlertypisch hoch positioniert sind. Die Form der Sitzbank passt perfekt zum Einsatzzweck und ist dennoch bemerkenswert komfortabel. Der winzige Soziussitz erfüllt hingegen nur Alibi-Funktion und kann durch eine Abdeckung aus dem markeneigenen Zubehör ersetzt werden.
183 kg leicht
Ein Aluminiumrahmen mit großem Durchmesser sorgt für eine unerschütterliche Stabilität, die Schwinge aus demselben Material ist elegant gekrümmt. Der kurzhubige Reihenzweizylinder mit 659 cm3 Hubraum dreht rasant hoch und erreicht seine 105 PS bei 10.400/min, seine maximale Drehkraft beträgt 70 Nm bei 8400 Touren. Was sich im ersten Moment vielleicht nicht überwältigend anhört, bekommt eine ganz andere Dimension durch ihr Gewicht: vollgetankt kommt die Aprilia auf nur 183 kg. Damit unterbietet sie alle Konkurrentinnen deutlich und wir erinnern uns: Sie ist auch die Leistungsstärkste in ihrer Klasse. Man erahnt, welches Potenzial in der RS 660 Factory schlummert.
Der Motor dreht locker bis an den roten Bereich von 11.500/min, wobei er auch bei niedrigen Touren im hohen Gang ruhig läuft, ohne zu ruckeln. Selbst seine Elastizität beim Überholen ist erstaunlich gut, Runterschalten ist nur selten nötig. Dabei verfügt die RS 660 Factory über ein präzises und kurz zu schaltendes Getriebe und hat auch noch serienmäßig einen Quickshifter. Der wird allerdings erst oberhalb von 3000/min aktiv, unterstützt dann aber den Piloten mit sehr schnellen Schaltvorgängen, ohne dass die Kupplung gezogen werden muss. Begleitet wird das Fahrerlebnis von einem basslastigen Sound, der nie zu laut wird.
Exzellentes Fahrwerk
Kommen wir zum Alleinstellungsmerkmal der Factory im Vergleich zur Basis-RS 660: dem Öhlins-Fahrwerk. Vorne kommt eine NIX-Gabel mit 43 mm Durchmesser zum Einsatz, hinten ein STX-46-Federbein mit integriertem Ausgleichsbehälter, alles komplett einstellbar. Es funktioniert wirklich exzellent, dämpft sensibel, arbeitet exakt und sorgt nicht nur auf der Rennstrecke für Ruhe. Zu meiner Verblüffung hält die Factory sogar auf Kopfsteinpflaster ein hohes Maß an Komfort aufrecht. Ich hatte mich schon auf einen wilden Rodeoritt eingestellt, doch das Fahrwerk zeigt sich völlig unbeeindruckt und schluckt die Schläge des holprigen Pflasters. Öhlins bleibt auch in der Aprilia Referenz-Klasse.
Aprilia RS 660 Factory im Test II (8 Bilder)

Ingo Gach
)Zahlreiche Assistenzsysteme
Die RS 660 Factory bekommt von Aprilia jede Menge elektronische Assistenzsysteme, die über ein großes TFT-Display mit einer logischen Menüführung angewählt werden können. Sie verfügt über eine mehrstufig einstellbare Schlupfregelung, Kurven-ABS, Motorbremsmoment-Regelung, Wheelie- und Launch-Control sowie einen Quickshifter. Drei hinterlegte Fahrmodi (Commute, Dynamic, Individual) und zwei Race-Modi (Challenge, Time Attack) können separat konfiguriert werden. Die beiden Letzteren sind für den Rundkurs prädestiniert und schärfen die RS 660 Factory nachhaltig, die Wheelie-Kontrolle ist dann ausgeschaltet und die Schlupfregelung greift nur minimal ein. Serienmäßig montiert Aprilia den Pirelli Diablo Rosso IV mit hervorragender Leistung auf Rennstrecke und Landstraße.
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Kurven sind ihr Metier
Ich habe selten ein Motorrad erlebt, das sich so ultraleicht bewegen lässt wie die RS 660 Factory. Mit nur 1370 mm Radstand und 65,9 Grad Lenkkopfwinkel ist ihre Geometrie ganz auf Agilität ausgelegt. Die Bremspunkte können dank der beiden exzellenten radial montierten Brembo-Vierkolbenbremszangen mit 320-mm-Bremsscheiben am Vorderrad sehr spät gewählt werden. Ohne jeglichen Kraftaufwand bringe ich die Aprilia in Schräglage und kann sie in Wechselkurven blitzschnell umlegen. Sie fährt exakt, wohin ich will, und selbst wenn sich mein Zielpunkt ändert, kann ich in der Kurve noch problemlos nachkorrigieren.
Die RS 660 Factory erreicht immens hohe Kurvengeschwindigkeiten und schlüpft an schwereren Motorrädern spielerisch innen vorbei. Mit Vollgas aus der Kurve zu beschleunigen gelingt, dank der ausgesprochenen Haftfreude der Pirellis und der sensiblen Schlupfregelung, ohne eine Spur von Nervosität. Ich falte mich flach hinter die gewölbte Scheibe und die RS 660 Factory spurtet in Richtung Topspeed. Der eine oder andere PS-Protz ist bis zum Ende der langen Gerade zwar wieder vorbeigezogen, hat aber in der nächsten Kurvenkombination erneut keine Chance gegen die Aprilia.
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Jeden Euro wert
Und jenseits der Rennstrecke? Auf der RS 660 Factory hätte selbst ein Fahranfänger im Fahrmodus "Commute", ja sogar noch in "Dynamic" immens viel Freude auf der Landstraße, denn das Bike ist leicht, die Motorleistung überfordert niemanden, das Handling ist vollkommen transparent und die Assistenzsysteme greifen rechtzeitig. Klar, dass die Factory mit ihrem edlen Fahrwerk teurer wird: Aprilia ruft 13.999 Euro auf, das sind 1200 Euro mehr als die Standard-RS 660. Die Factory ist jeden Euro davon wert.
(fpi)