IGF: Eine Internet-Verfassung für die Rechte der Cyberbürger

Eine "Bill of Rights" des Internets mit Rechten für den Cyberbürger sei überfällig, hieß es auf dem IGF: "Wir müssen daran denken, dass die Onlinewelt heute der größte öffentliche Ort in der Geschichte der Menschheit ist."

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Von
  • Monika Ermert

Die italienische Regierung warb beim Internet Governance Forum (IGF) in Athen für eine "Internet Bill of Rights". Gemeinsam mit der brasilianischen Regierung und der Internet Society Italien startete sie eine der ersten so genannten "dynamischen Koalitionen", um die Bill of Rights zum offiziellen IGF-Thema zu machen.

Das IGF war nach heftigen Streitereien um die Oberaufsicht über die Internetverwaltung und das Domain Name System, die den Weltgipfel der Informationsgesellschaft begleitet hatten, von den beteiligten Regierungen und der UN ins Leben gerufen worden. Am Montag dieser Woche startete die erste Tagung des IGF. Im Verlauf des IGF-Prozesses sollen die dynamischen Koalitionen sich aus unterschiedlichen interessierten Gruppen zusammensetzen und ein Thema betreuen beziehungsweise Lösungen voranbringen. Der Zusammenschluss von Organisationen und Akteuren, die zu einem Thema im Bereich der Koordination und Regulierung des Netzes arbeiten, gehört zu einem der zentralen Ziele, die beim Weltgipfel der Informationsgesellschaft (WSIS) formuliert wurden.

Zu einer "Internet Bill of Rights" meinte der ehemalige Vorsitzende der Artikel-29-Datenschutzergruppe der EU, Stefano Rodota, eine solche eigene Verfassung mit Rechten für den globalen Cyberbürger sei angesichts der Entwicklung des Netzes überfällig. Es reiche nicht mehr aus, Onlinerechte allein aus den bestehenden Offlinerechten abzuleiten. "Wir müssen daran denken, dass die Onlinewelt heute der größte öffentliche Ort in der Geschichte der Menschheit ist."

Die Bill of Rights soll sich gegen den Mißbrauch von Daten durch den Staat sowie durch private Unternehmen richten: "Wir haben die Vorratsdatenspeicherung bekommen, warum sollen wir auf eine Bill of Rights verzichten?", meinte Rodota. Unternehmen könnten trotz des potenziellen Interessenskonfliktes im Datenschutz sogar die natürlichen Verbündeten der Bewegung sein, da solche Grundrechte als Referenz angeführt werden könnten, wenn es etwa um die Herausgabe von Daten gehe. Die Frage, ob er trotz Vorratsdatenspeicherung auf die Unterstützung weiterer europäischer Regierungen hoffe, konnte Rodota allerdings nicht beantworten.

Die Koalition werde zunächst an der Ausarbeitung des verfassunggebenden Prozesses arbeiten, sagte der italienische Grünen-Politiker Fiorello Cortina. "Wir werden nicht selbst einen Entwurf vorlegen, sondern für Aufmerksamkeit werben und dann online Ideen sammeln, auf deren Basis Stefano Rodota ein erstes Dokument erstellen wird – nur ein Dokument, noch keinen endgültigen Vorschlag." Bis zum nächsten IGF hat man sich laut dem italienischen Internetaktivisten Vittorio Bertola vorgenommen, die Themen der einzelnen Abschnitte zu diskutieren.

"Urheberrechte gehören natürlich in die Verfassung", betonte ein Vertreter des brasilianischen Kulturministers Gilberto Gil. Und Cortina nannte auch Softwarepatentierbarkeit und Infrastrukturfragen wie der Zugang zur letzten Meile als mögliche Themen. Auf jeden Fall hofft man beim nächsten IGF "ready for prime time" zu sein – also den Vorschlag in einer der großen Plenarsitzungen diskutieren zu können. Diese werden auch per Webcast übertragen und greifen auch von den Webcastteilnehmern per E-Mail oder SMS eingereichte Fragen auf.

In die "Prime Time" will auch eine weitere der "dynamischen Koalitionen" kommen, die sich um den in Athen viel diskutierten Zugang zum Wissen kümmern will. In der recht eindrucksvollen Koalition sind neben den Bürgerrechtsorganisationen IP Justice, CPTech, Free Software Foundation, Electronic Frontier Foundation auch die Universitäten von Yale, die Pierce Law School und die IP Academy von Singapore sowie die Unternehmen Google und Sun vertreten. Dazu kommen der Europarat und die kanadische Regierung. Der Ziel dieser Koalition, erklärte Robin Gross von IP Justice, ist "die richtige Balance zwischen Urheberrechten und Zugangsrechten und die Förderung des freien Informationsaustausches in der Online-Welt".

Susy Struble, verantwortlich für IT-Standardisierung und Regierungsangelegenheiten bei Sun, nannte die Offenheit bei Formaten und Standards ein zentrales Thema. "Was nützt mir der Zugang, wenn er nur über ein einziges Betriebssystem funktioniert", sagte sie und verwies unter anderem auf die Patentdatenbank des Europäischen Patentamtes. "Rahmenregelungen über den Informationszugang sind für uns von enormer Bedeutung." Google-Vertreter Andrew McLaughlin sagte: "Urheberrecht ist wichtig, wir nutzen selbst Digital Rights Management, um die Rechte unserer Partner zu schützen. Aber die Balance muss stimmen." Google habe in den letzten Tagen Gesetzentwürfe in Australien, Kanada und Großbritannien kommentiert. Die Koalition will die verschiedenen Regulierungsansätze zusammentragen, um zu sehen, was funktioniert hat und was nicht. Daraus sollen dann möglichst von allen getragene Vorschläge für das beste Vorgehen entstehen.

Jamie Love von CPTech sagte, da das IGF keine Entscheidungen treffen könne, seien die von IGF-Sekretariat und -Beratergruppe vorgeschlagenen "dynamischen Koalitionen" das beste Modell, um konkrete Ergebnisse zu erzielen. "Ab einem bestimmten Punkt hängt alles nur noch davon ab, ob eine Idee die Leute überzeugen kann." Anders als die "Bill of Rights"-Koalition will man erst einmal kleinere Brötchen backen und Vorschläge in einem Bereich erarbeiten, der weniger kontrovers ist, etwa dem Zugang zu Informationen aus öffentlich geförderter Forschung. Zwei weitere Koalitionen werden wohl am heutigen Donnerstag aus der Taufe gehoben: zu Open Standards und möglicherweise zum Datenschutz.

Eine Art Verfassung für das Internet ist übrigens keine ganz neue Idee: Zumindest in einer Unabhänigkeitserklärung für den Cyberspace versuchte sich vor gut 10 Jahren schon einmal John Perry Barlow: "Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Laßt uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr." Ähnlich wie die Magna Charta des Informationszeitalters und die 95 Thesen des Cluetrain-Manifests sorgte Barlows Unabhängigkeitserklärung für einiges Aufsehen und wird bis heute immer wieder einmal in den Debatten der Netzcommunities zitiert, zeitigte aber recht wenige praktische Auswirkungen.

Siehe zum Internet Governance Forum, dem Weltgipfel der Informationsgesellschaft und zu den nach seinem Abschluss entfalteten Aktivitäten:

Zu den Ergebnissen des 1. WSIS siehe auch:

(Monika Ermert) / (jk)