Erdbeben in Japan: Plutonium freigesetzt [2. Update]

Die japanische Regierung spricht nun offiziell von einer partiellen Kernschmelze im AKW Fukushima Daiichi, Spuren von Plutonium wurden im Erdboden im Kraftwerk entdeckt. Die Zahl der Toten und Vermissten als Folge des Erdbebens stieg auf über 28.000.

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Der japanische AKW-Betreiber Tokyo Electric Power Company (Tepco) stellte am Sonntag seine eigenen Angaben zu Ursache und Stärke der Radioaktivität in Block 2 des Kraftwerks Fukushima Eins infrage. Das berichteten die Nachrichtenagenturen Kyodo und Jiji. Laut Tepco seien womöglich andere radioaktive Substanzen als das bisher gemeldete Jod-134 im Wasser im Turbinenhaus enthalten. Zudem habe es bei der Berechnung der Zahlenwerte womöglich Fehler gegeben. Nach den bisherigen Angaben war die Radioaktivität in dem Wasser etwa zehn Millionen Mal höher gewesen als normalerweise. Daraufhin hatten Arbeiter das Feld räumen müssen. Nähere Angaben machte das Unternehmen zunächst nicht.

Tepco versuchte am Wochenende, das Wasser abzupumpen, damit weiter an der Verkabelung der Kühlanlagen gearbeitet werden kann. Der radioaktive Wasser steht bis zu einem Meter hoch in den Turbinen-Häusern aller vier Reaktorblöcke von Fukushima Eins.

In der Hauptstadt Tokio und in Nagoya im Zentrum des Landes versammelten sich am Sonntag jeweils rund 300 Demonstranten. "Wir brauchen keine Kernkraft", skandierten die Protestteilnehmer in Tokio. In Deutschland haben am gestrigen Samstag mehr als 200.000 Menschen gegen Atomkraft demonstriert. In den vier größten Städten Berlin, Hamburg, München und Köln forderten jeweils zehntausende einen sofortigen Atomausstieg. Die Veranstalter sprachen von 250.000 Teilnehmern – mehr, als sie erwartet hatten.

Der Chef der International Atomic Energy Agency (IAEA) Yukiya Amano sagte am Wochenende, die Krise um das AKW Fukushima Eins könne noch Wochen bis Monate dauern. Die Behörden seien sich schließlich noch immer nicht sicher, ob die Reaktorkerne und verbrauchten Brennstäbe mit ausreichend Wasser zum Kühlen bedeckt seien. Ein gutes Zeichen sei, dass die Stromversorgung der Anlage teilweise wiederhergestellt sei. Die IAEA schickte zwei weitere Expertenteams nach Japan. Sie sollen den Behörden helfen, die Strahlung zu messen und eine mögliche Verseuchung von Lebensmitteln im Blick zu behalten.

Unterdessen berichtet Jiji, der Geowissenschaftler Yukinobu Okamura habe im Jahre 2009 während einer Tagung des japanischen Wirtschaftsministeriums zur Sicherheit von AKW darauf hingewiesen, dass ein großer Tsunami Japans Pazifikküste treffen könnte. Der AKW-Betreiber Tepco habe die Warnung aber abgewiesen. Okamura, Chef des Forschungsbereichs Störfall und Erdbeben am Nationalen Institut für Moderne Industriewissenschaft und Technologie, habe 2004 Sandablagerungen untersucht, die infolge eines vermuteten Tsunamis im Jahr 869 entstanden seien und festgestellt, dass die AKW in Fukushima nicht für die Folgen eines größeren Tsunamis ausgelegt seien. Das Erdbeben seinerzeit soll sich in der Region ereignet haben, in dem nun die aktuelle Katastrophe passiert ist. Die Stärke wurde auf 8,4 auf der Richterskala geschätzt, das Erdbeben vor zwei Wochen wurde auf Stärke 9 eingestuft.

[1. Update (28.3., 9:30): Mittlerweile spricht auch die japanische Regierung davon, dass es in Reaktor 2 des außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerks Fukushima Daiichi zumindest zu einer partiellen Kernschmelze gekommen sein muss. Dies erkläre die die im Wasser des Turbinengebäudes entdeckte sehr stark erhöhte Radioaktivität von 1000 MilliSievert pro Stunde. Die UN-Atomaufsichtsbehorde IAEA hält eine radioaktive Dosis durch die natürliche Umweltstrahlung von 0,2 bis 0,3 MikroSievert pro Stunde (2,4 MilliSievert pro Jahr) für normal, in Deutschland liegt die natürliche Umweltstrahlung bei bis zu 0,2 MikroSievert pro Stunde (1,7 MilliSievert pro Jahr).

Regierungssprecher Yukio Edano fand ungewöhnlich harsche Worte, um das Vorgehen des Kraftwerksbetreibers Tokyo Electric Power zu kritisieren. Dieser hatte zuerst eine zehn Millionen Mal erhöhte Radioaktivität gemeldet, diese Werte dann auf 100.000 Mal erhöht nach unten korrigiert und davon gesprochen, auch andere radioaktive Isotope als Jod-134 seien in dem zur Kühlung eingesetzten Wasser enthalten. Edano nannte den Umgang von Tokyo Electric Power mit den Messwerten "völlig inakzeptal". Solche Fehler dürften nicht passieren, da die Messwerte die wichtigsten Anhaltspunkte zur Gewährleistung der Sicherheit seien. Edano erklärte aber auch, die Kernschmelze sei nur "zeitweilig", sie habe wieder gestoppt werden können.

Ob die Kernschmelze nun gestoppt werden konnte oder nicht, die Reaktoren 1 bis 4 des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi sind jedenfalls noch lange nicht wieder unter Kontrolle gebracht. Das japanische Atomforum spricht in seinem Statusbericht vom 28. März 16 Uhr japanischer Zeit (8 Uhr mitteleuropäischer Zeit) unter anderem davon, dass die Brennelemente in den Reaktoren 1 bis 3 teilweise oder vollständig frei liegen, dass zudem die verbrauchten Brennelemente zumindest in den Abklingbecken der Reaktoren 3 und 4 warscheinlich beschädigt seien.

Am Montag gingen die Arbeiten weiter, um das radioaktiv verseuchte Wasser aus den Reaktorgebäuden herauszupumpen. Nur dann können die Arbeiten weitergehen, um die Stromversorgung für Kontrollräume und Kühlsysteme wiederherzustellen und die normalen Kühlsysteme möglicherweise wieder in Gang bringen zu können. Bis zum Montag sind insgesamt 19 Techniker, die in den Reaktoren arbeiten, einer Strahlendosis von über 100 MilliSievert ausgesetzt worden. Dies ist der eigentliche Grenzwert in Japan für Arbeiter in einem Atomkraftwerk in einem Notfall; er wurde im Verlauf der Unfälle in Fukushima Daiichi für die Arbeiter in diesem Kraftwerk auf 250 MilliSievert erhöht. Die Dosen für die 19 Beschäftigten, die dann von der Arbeit im AKW abgezogen wurden, lagen zwischen 170 und 180 MilliSievert. Im Meerwasser nördlich der Abflusskanäle der Reaktoren 1 bis 4 wurden Konzentrationen des radioaktiven Isotops Jod-131 entdeckt, die das 1.150-fache des erlaubten Grenzwerts betrugen. Laut dem japanischen Fernsehsender NHK war dies der dritte Tag in Folge, an dem erhöhte Konzentrationen von radioaktiven Isotopen im Meerwasser gefunden wurden.

Die Regierung hat die Bewohner der Städte und Dörfer, die in der 20-km-Evakuierungszone rund um Fukushima Daiichi liegen, aufgerufen, derzeit nicht zurückzukehren. Edano erklärte laut der Nachrichtenagentur Kyodo, es sei sehr wahrscheinlich, dass die Zone radioaktiv verseucht sei und es momentan dort große Risiken für die Gesundheit gebe. In Nordosten Japans in der bislang am schwersten betroffenen Präfekur Miyagi gab es am Montagmorgen japanischer Zeit ein neues schweres Nachbeben der Stärke 6,5; die japanische Meteorological Agency warnte vor weiteren Nachbeben, die zu erwarten seien. Am Sonntag hatte die japanische Polizei zudem neue Zahlen über die Opfer des Erdbebens und der anschließenden Flutwelle bekanntgegeben, danach gibt es 10.804 Tote und 16.244 Vermisste.]

[2. Update (29.3., 10:35): Tokyo Electric Power, Betreiber des außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, erklärte am Montagabend, an fünf Stellen im AKW sei im Boden Plutonium entdeckt worden. Es kann aus dem Kern des Kraftwerksreaktor 3 stammen, aber auch aus Brennstäben in den Abklingbecken. Laut der japanischen Nuklearaufsichtsbehörde NISA spreche die Entdeckung dafür, dass die Brennelemente in Reaktoren beschädigt seien. Die Überwachung der Radioaktivitätsmesswerte im Kraftwerk und in der 20-km-Evakuierungszone werde nun verstärkt.

Laut der UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA ist es nicht ungewöhnlich, dass im Erdboden Spuren von Plutonium entdeckt werden – dies sei eine Folge der oberirdischen Atomtests früherer Jahre. Die Isotop-Zusammensetzung der in Fukushima Daiichi gefundenen Plutonium-Spuren weise aber darauf hin, dass sie durch Brennstäbe im Kraftwerk verursacht wurden.

Der IAEA-Generaldirektor Yukiya Amano erklärte, die Situation in dem AKW bleibe sehr ernst. Man habe das Kraftwerk immer noch nicht unter Kontrolle, und es werde noch einige Zeit dauern, die Reaktoren zu stabilisieren. Auch der japanische Premierminister Naoto Kan meinte, die Situation in Fukushima Daiichi bleibe unberechenbar, die Regierung sei in äußerstem Alarmzustand. Man untersuche gerade, ob die Evakuierungszone um das Kraftwerk herum ausgedehnt werden müsse. Außerdem gibt es in der japanischen Regierung Überlegungen, den Kraftwerksbetreiber zumindest zeitweise zu verstaatlichen – zuletzt war massive Kritik auch von japanischen Offiziellen am Vorgehen und der Infomrationspolitik von Tokyo Electric Power laut geworden.

Mittlerweile wurde radioaktives Material, von dem angenommen wird, es stamme aus Fukushima Daiichi, in der Luft in Südkorea, in den US-Bundesstaaten South Carolina, North Carolina und Florida entdeckt. In allen Fällen spreche die Zusammensetzung an radioaktiven Jod- und Cäsium-Isotopen dafür, dass diese Spuren nicht durch lokale Einrichtungen, sondern durch die Notfälle im japanischen AKW verursacht wurden.

Laut Kraftwerksbetreiber sei kein radioaktiv verseuchtes Wasser aus Auffangbecken bei den Reaktoren ins Meer geflossen. Am Montag waren im Wasser, das in Turbinengebäude von Reaktor 2 stand und wohl auch in die Auffangbecken abfloss, Radioaktivitätswerte von 1000 MilliSievert und mehr pro Stunde gemessen worden. Seit Montag wird das radioaktiv verseuchte Wasser, das aller Wahrscheinlichkeit nach durch die externe Zufuhr von Kühlwasser verursacht wurde, aus Reaktor 1 in Tanks gepumpt, bei Reaktor 2 und 3 wurden diese Arbeiten aber noch nicht aufgenommen. Das Abpumpen des Wassers ist allerdings Voraussetzung für die Arbeiten an der Inbetriebnahme der Stromversorgung und der normalen Kühlsysteme der Reaktoren.

Da die Temperatur des Druckbehälters von Reaktor 1 aber wieder auf über 320°C gestiegen ist, pumpte der Kraftwerksbetreiber zudem wieder mehr Frischwasser zur Kühlung hinein – was die Bemühungen, das radioaktiv verseuchte Wasser abzupumpen, konterkarierte. Der japanische Regierungssprecher Yukio Edano erklärte laut der Nachrichtenagentur Kyodo, es sei schwierig, die beiden Aufgaben (Kühlung und Abpumpen) in Einklang zu bringen. Priorität hätten aber die Bemühungen, eine Überhitzung und Austrocknung der Reaktoren und eine darauf folgende weitere Kernschmelze zu verhindern.

Die Zahl der Toten und Vermissten aufgrund des Erdbebens am 11. März und der darauf folgenden Flutwellen stieg mittlerweile auf über 28.000. Nach offiziellen Angaben stieg die Zahl der Toten auf 11.063, die Zahl der Vermissten auf 17.258.]

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(anw)