Das Göttinger Ei: Ein Auto, gezeichnet vom Wind

Ein geplanter Nachbau weckt Erinnerungen an ein epochales Experimentalfahrzeug. Der cw-Wert des siebensitzigen Monospace von 1939 ist bis heute unerreicht.

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Ein Versuchsträger zeigte schon vor über 80 Jahren das Potenzial der Aerodynamik. So konsequent hat man sie bis heute aus ganz praktischen Gründen bei keinem Serienfahrzeug umgesetzt.

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Inhaltsverzeichnis

Der Verein Mobile Welten in Hannover möchte die Entwicklung der Technik anhand von Exponaten anschaulich und erlebbar machen. Dazu restauriert er auch Motoren und Autos. Als neuestes Vorhaben soll mit dem sogenannten Schlör-Wagen ein weiteres verlorengegangenes Versuchsfahrzeug wieder aufgebaut werden. Mit ihm konnte die Aerodynamische Versuchsanstalt Göttingen AVA (heute "Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt" DLR) 1939 zeigen, welche Vorteile eine strömungsgünstige Karosserie für eine "ganz normale" Limousine bringen kann. Ein Rekord fiel dabei eher nebenbei ab.

Dazu hat der Verein nun die Reste von drei Mercedes 170 H als Technik-Spender organisiert, die er zurzeit in der ehemaligen Salzmühle in Sehnde-Wehmingen, beim Hannoverschen Straßenbahn-Museum aufbereitet. Obwohl das ein seltenes Auto ist, scheint die Mechanik handhabbar. Die Karosserie aus Holz und Aluminium hingegen dürfte eine Herausforderung werden, da von der originalen Einzelanfertigung nicht mehr überliefert ist als Fotos und Zeichnungen. Um dem Projekt noch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, ein paar Worte zur Besonderheit dieses auch als "Göttinger Ei" bezeichneten Experimentalfahrzeugs.

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In den 1930er-Jahren war Aerodynamik, befördert durch die populäre Fliegerei (Transatlantik, Charles Lindbergh 1927), stark in den Fokus geraten. Sie fand ihren Platz aber nicht allein in der Fliegerei. Die Reichsbahn beispielsweise maß bei einer Lok der Baureihe 03 einen Leistungszuwachs am Zughaken von 385 PS bei 140 km/h schon durch eine Teilverkleidung. Die vollverschalte 05 002 stellte 1936 mit 200,4 km/h vor einem Personenzug einen Geschwindigkeitsweltrekord für Dampfzüge auf. Stromliniendesign war in und wurde in jenen Jahren sogar harmlosen Haushaltsgeräten wie Staubsaugern (Electrolux, Schweden) bis hinsichtlich Geschwindigkeit völlig unverdächtigen Toastern übergestülpt. In den USA machte der Industriedesigner Loewy die Stromlinie ungemein populär, für Dampf- und Dieselloks genauso wie für Rasierapparate und Zigarettenetius.

Die europäische Autoindustrie suchte zu dieser Zeit unter dem Eindruck der Massenmotorisierung in den USA nach neuen Konzepten. Was zunächst rein von der Marktforschung getrieben war, wurde auch sehr dankbar von der NS-Regierung aufgegriffen und als populistisches Crowdfunding-Projekt namens "KdF-Wagen" betrieben.

Der Schlör-Wagen (7 Bilder)

Auf der IAA 1939 hat man sich für den Monospace mehr interessiert als ihn zu begehren. Aber an eine Serienfertigung war gar nicht gedacht. Eher wollte die AVA die Autoindustrie auf neue Möglichkeiten aufmerksam machen.
(Bild: DLR)

Dass damals nicht nur der VW mit Heckmotor auf den Weg gebracht wurde, sondern Fahrzeuge wie der Mercedes-Benz 170 H bereits in den Autohäusern standen, ist kein Zufall. Es zeigt den Willen der Industrie, sich vom Standardantrieb abzuwenden. Er galt als Platzverschwendung, unnötig schwer und der hohe Motorblock stand nicht zuletzt Bestrebungen nach strömungsgünstigeren Karosserien im Weg. Obwohl an dieser Stelle nicht verschwiegen werden sollte, dass durchaus auch der Mercedes-Benz 170 V (also gewissermaßen die Standardantriebsversion des 170 H fürs konservative Publikum) 1938 mit einer Stromlinienkarosserie des Konstrukteurs Kamm ausgestattet worden war. Aber die Geschichte des sogenannten K3-Wagens ist eine andere, deutlich weniger eiförmige.

Heckantrieb versprach damals vielen Konstrukteuren die Lösung. Kräftigen Einfluss übte die damalige Denkschule um Hans Ledwinka aus, die den Zentralrohrrahmen und die Pendelachse für die Antriebsräder propagierte. Das alles zeigte schon sein Tatra T 97 von 1937, übrigens auch den luftgekühlten Boxer im Heck – ein Design, das Ledwinkas Freund Porsche sich offenbar für den VW abschaute. Aber für den musste zu jener Zeit ja erst noch ein ganzes Werk gebaut werden.

Als einen der bereits am Markt erhältlichen Hecktriebler wählte die AVA den Mercedes-Benz 170 H, um das Potenzial konsequent windschlüpfigen Karosseriedesigns auszuloten. Im Auftrag des Reichsverkehrsministeriums ließ sie unter Leitung des Konstrukteurs Karl Schlör von Westhofen-Dirmstein (1911–1997) eine stromlinienförmige Leichtmetall-Karosserie für dieses Auto entwickeln, handgefertigt beim Karosseriebauunternehmen Gebr. Ludewig in Essen.

Das Versuchsfahrzeug erzielte auf der Autobahn Frankfurt – Darmstadt eine gemessene Höchstgeschwindigkeit von 135, laut Schlör sogar bis zu 146 km/h statt der 105 (eingetragen waren 92 km/h), zu denen sich der Mercedes mit Serienkarosserie aufschwang. Der Verbrauch sank bereits ohne Änderungen am Antrieb um 20 bis 40 Prozent. Kein Wunder, das Experimentalfahrzeug zeigte bei den Messungen im Windkanal einen Luftwiderstandsbeiwert von cw 0,186.