Das Göttinger Ei: Ein Auto, gezeichnet vom Wind

Seite 2: Geburtsfehler, Spektakel und das Ende

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Später attestierte Volkswagen anhand eines Modells sogar einen cw von nur 0,15. Das ist auf dem Niveau aktueller Versuchsträger und viel besser als moderne Autos von der Stange, die 0,24 bis 0,3 erreichen. Mit sieben Sitzplätzen kann man den Wagen gleichzeitig als eine Art Vorläufer des Familien-Vans sehen. "Monospace" würde man heute dazu sagen, oder Einraumfahrzeug. Nicht: Eiraumfahrzeug.

Der Fahrer saß aufgrund der Karosserieform in der Mitte zwischen den vorderen Radkästen, hinter ihm war Platz für zwei Sitzreihen. Um genügend Beinraum für den Fahrer zu schaffen, bekam das Experimentalfahrzeug ausweislich der Zeichnungen eine vordere Einzelradaufhängung mit Doppelquerlenkern und Torsionsfedern anstelle der billigeren, serienmäßigen doppelten Querblattfederung. Die Zahnstange der Lenkung wurde hinter die Achse verlegt, die Lenkbewegungen über ein doppeltes Umlenkgetriebe vom Volant dorthin übertragen. Damit ist vom ursprünglichen 170 V eigentlich nur noch der hintere Rahmenteil mit Motor und Getriebe geblieben. Der vordere Teil des Unterbaus inklusive Rahmen, Lenkung und Achse war hingegen komplett neu entwickelt. Mit dem geplanten Nachbau werden sie beim Verein Mobile Welten an diesem Teil sicher noch eine Menge zu tüfteln haben.

Auf der IAA 1939 in Berlin stand der Schlörwagen Interessenten aus der Industrie zu Probefahrten zur Verfügung, an eine Produktion war nicht gedacht. Aber die Reaktion des Publikums notierte man doch: Es empfand den wegen der verkleideten gelenkten Räder 2,10 Meter breiten Wagen als zu futuristisch. (Zum Vergleich: Ein Tesla Model S misst in der Breite ohne Außenspiegel 1,96, mit 2,19 Meter. Die Höhe des Schlör-Wagens betrug 1,48 m, die Länge 4,33 m, der Radstand 2,6 m).

Der Schlör-Wagen Teil 2 (7 Bilder)

Die Idee mit dem herausnehmbaren Aggregat aus Getriebe, Motor, Differenzial und den Rahmenträgern war damals so virulent, dass man sie auch beim VW (Käfer) aber auch beim Citroën 11 CV umsetzte, um nur zwei prominente Beispiele zu erwähnen. Die Idee war, dass immer eine davon in den Markenwerkstätten zum raschen Tausch vorhanden sein sollte. Das ausgebaute Aggregat hätte im Werk überholt werden sollen, die Werkstätten wäre zu reinen Teiletauschern geworden. (Bild: DLR)

Die meisten Kunden verlangten weiterhin einen glänzenden Motor-Schrein mit tempelgleichem Grill als Statussymbol. Das Volk hatte indes nach 1946 keine Wahl, es musste mangels leistbarer Alternativen den in dieser Hinsicht völlig schmucklosen – genau: Volks-Wagen kaufen. Es bekam damit ein Auto, dessen Nachteile schon damals bekannt waren: Eine zu leichte Vorderachse und die Pendelachse im Heck, die in Kombination sogar bei seinen anfänglichen 24,5 PS problematisch waren, um es höflich zu sagen.

Diese beiden prinzipbedingten Nachteile plagten auch das AVA-Experimentalfahrzeug. Der damalige Daimler-Benz-Konstrukteur Josef Müller schrieb über dessen technische Basis: "Leider erlag man bei der Motorauswahl noch der Versuchung, statt des kurzen Boxermotors den längeren, wenn auch einfacheren Reihenvierzylinder zu nehmen. Die ersten Versuchsfahrten waren keineswegs zufriedenstellend. Der [...] Geburtsfehler der Pendelachse wirkte sich im Zusammenspiel mit der großen Hecklastigkeit stärker als erwartet aus. Trotzdem gelang es, durch peinliche Abstimmung der Reifen- und Federweichheiten zwischen Vorder- und Hinterachse [...] aus dem zunächst recht störrischen Vehikel ein brauchbares Gefährt zu machen."

Daimler-Benz hatte sich wirklich darum verdient gemacht, die "Geburtsfehler" des 170 H so gut es ging zu kurieren. Die Fahrt im "Schlörwagen" muss also aus anderen Gründen bisweilen beängstigend gewesen sein. So war er insbesondere bei Seitenwind nur schlecht auf der Straße zu halten. Betrachtet man seine Form von der Seite, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Karosserie jede Menge Auftrieb – und das auch noch vor der Fahrzeugmitte – erzeugt und den Wagen damit vorn zu leicht werden lässt. Wegen der geraden Straßenoberfläche und der Forderung nach minimalem Widerstand ergibt sich eine halbierte Tropfenform. Die Karosserie gleicht damit in ihrem Längsschnitt allerdings einem idealen Flügelprofil, das man genau so konstruiert, um möglichst viel Auftrieb zu erzeugen. Beim Auto wäre freilich das Gegenteil erwünscht: Abtrieb.

Weitere ernsthafte Versuche mit dem Wagen während des Krieges unterblieben. Einzig eine denkwürdige Fahrt, auf der das Fahrzeug 1942 mit einem erbeuteten russischen 130-PS-Sternmotor per Propeller mit 180 km/h über die Autobahn geschoben wurde, ist dokumentiert. Schlör hatte das Aggregat von seinem Fronteinsatz in Riga nach Göttingen gebracht. Die Show dürfte weitaus spektakulärer gewesen sein als etwaige wissenschaftliche Erkenntnisse. Schlörs Memoiren zufolge entging er dabei Polizeiärger nur durch eine Einzelzulassung als Experimentalfahrzeug.

Das Auto wurde offenbar auch später nicht mehr gebraucht. Laut Leiterin des Zentralen Archivs des DLR, Dr. Jessika Wichner, stand es "noch nachweisbar bis mindestens Ende August 1948 in der AVA Göttingen." Schlör bekam die Auskunft, dass "die Karosserie (...) noch notdürftig erhalten" sei. Laut DLR war das Fahrzeug "damals weder in einem fahrtüchtigen Zustand, noch überhaupt ein vollständiges Automobil." Als Schlör das Wrack 1948 bergen wollte, scheiterte er am Einspruch der britischen Militärverwaltung. Man vermutet, dass die Reste später verschrottet wurden. (fpi)