Missing Link: Sind wir schon da? Autonom oder assistiert fahren​

Fehlt nur noch ein bisschen bis zum Zukunftsversprechen Autonomes Fahren? Oder ist die Frage falsch, weil es um viel mehr, ein ganz neues Mobilitätsdenken geht?

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Erprobung automatisierter Fahrfunktionen bei ZF, einem der Entwickler Autonomen Fahrens.

(Bild: ZF)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

"Ich bin hundemüde und etwas angeschickert. Heute sitze ich in meinem Auto mal hinten und der Robo-Assi darf mich nach Hause fahren." Viele Autofahrer und nicht wenige Visionäre wie Elon Musk warten seit mehr als zehn Jahren darauf, dass die Assistenzsysteme im eigenen Auto endlich erwachsen werden und so perfekt funktionieren, dass sie vollständig Autonomes Fahren nach Level 5 ermöglichen. Wir sind doch so dicht dran. Sind wir? Selbst nur ein einziges Prozent, das an der Vollendung fehlt, würde aber völlig ausreichen, den Traum vom Autonomen Auto auf Jahre zu verzögern.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Trotzdem gibt es Robotaxis, die Passagiere ohne Fahrer transportieren und das auch dürfen, selbst die Gesetzeslage in Deutschland lässt das inzwischen zu. Die fahren nicht mal nach Level 5, sondern nur nach Level 4. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

In diesem ersten von zwei Artikeln geht es um die Probleme auf dem Weg von Assistenzsystemen zum Autonomen Fahren nach Level 5. Der zweite Artikel beleuchtet, warum das fahrerlose Taxi nach Level 4, das eine vollkommen andere Idee verfolgt, so viel schneller zum Zug kommt.

"Vollständig Autonome Fahrzeuge, die niemanden am Steuer benötigen und überall hinfahren können, wird es für viele, viele Jahrzehnte nicht geben. Vielleicht nie", mutmaßte kürzlich Daniel Sperling, Gründungsdirektor des kalifornischen Institute of Transportation Studies. Ähnlich skeptisch wie der amerikanische Wissenschaftler äußerte sich der Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Siegfried Brockmann: "Von selbstfahrenden Autos in der Stadt sind wir noch weit entfernt", gab er bereits 2015 zu Protokoll, eine Aussage, die er kürzlich bekräftigt hat. "Dass sich eine 85-Jährige ins Auto setzt und von A nach B chauffieren lässt, dieses Szenario ist heute noch genauso weit entfernt wie vor sechs Jahren", ergänzt er.

Aber auch am anderen Ende der Risikobereitschaft-Skala wird auf die Bremse gedrückt. "Ich habe nicht erwartet, dass es so schwer sein würde", meint Elon Musk. Wenn der Daniel Düsentrieb unserer Zeit, der für vollmundige Versprechungen bekannt ist und für den selbst Flüge auf den Mars nicht zu schwör sind, sich derart kleinlaut äußert – müssen wir dann alle Hoffnung fahren lassen, in den nächsten Jahren das Autonome Fahren realisiert zu sehen?

Zumindest steht das Autonome Fahren nicht in Kürze irgendwo zum Download bereit. Es ist wohl eher so wie mit der Kernfusion – von der heißt es auch seit Jahrzehnten, sie komme gleich. Doch sie ist immer noch nicht da.

Dass man allein über eine ständige Verfeinerung der Assistenzsysteme zwangsläufig zum KI-gesteuerten Level-5-Fahrzeug gelangt, empfinden Kritiker dieser Idee schon immer als schlechte Science-Fiction. Guter Science-Fiction gelingt es, eine plausible, umfassende und kohärente Zukunftsvision zu entwickeln, bei schlechter treffen oft einige futuristische Gadgets oder Ideen auf ein mehr oder weniger unverändertes Umfeld. Da gibt es dann zwar Teleportation, Aliens und Laserkanonen, der Rest der technischen Umwelt ist aber gleichgeblieben. Ganz zu schweigen von gesellschaftlichen Veränderungen: Es wird immer noch gearbeitet, geheiratet und der Rasen hinterm Einfamilienhaus gemäht. Ist es bei der gängigen Vorstellung des Autonomen Fahrens ähnlich?

In diesem Zukunftsszenario ist das Autonome Fahren auf Stufe 5 und damit eine der größten technischen Herausforderungen der Menschheit – die "Mutter aller KI-Probleme" (Apple-Chef Tim Cook) – vollständig gelöst. Der algorithmische "beste Fahrer der Welt", so Waymos Werbeclaim, kann immer und überall hinfahren. Drumherum aber ist alles beim Alten geblieben: Die Autos selbst sind mehr oder weniger die gleichen, Infrastrukturen und Gesetze haben sich nicht verändert, und auch die Besitzer der Autos gibt es noch, die sich "ans Steuer setzen" und ihren hergebrachten Nutzungsgewohnheiten frönen, wie zur Arbeit, zum Einkaufen und in den Urlaub zu fahren.

Das ist gerade so, als machte sich ein Industrieroboter in einem kleinen Handwerksbetrieb zu schaffen, ohne dass sich sonst etwas geändert hätte. Damit dessen Einsatz hingegen Sinn ergibt, muss der gesamte Betrieb umorganisiert werden, denn jede Erfindung verlangt nach tiefgreifenden Veränderungen der Umgebung, sonst bleibt sie kuriose Insellösung oder scheitert gänzlich.

Denkt man an die umfassenden Veränderungen, die die Durchsetzung des Automobils vor 120 Jahren mit sich brachte, wird klar: regelrechte Umwälzungen in den Infrastrukturen bis hin zu gesetzlichen Regelungen und dem Alltagsverhalten der Menschen, von Carport bis Pendlerpauschale, waren nötig, um dem technischen Artefakt Automobil zu seinem epochalen Durchbruch zu verhelfen. Die Vorstellung, Autos führen demnächst algorithmisch, sonst ändere sich nix – das ist schlechte Science Fiction.

Und doch ist das der Weg, der insbesondere den Autoherstellern vorschwebt, nämlich die kontinuierliche Weiterentwicklung von Assistenzsystemen. Diese Philosophie inspiriert übrigens auch das Stufenmodell zum Autonomen Fahren in seiner Standarddarstellung.

Das Stufenmodell des Autonomen Fahrens: Surrogat kontinuierlicher Entwicklung.

(Bild: Susann Massutte)

Hier sieht es mit Fortschritten eher mau aus. Die Produkte aus heimischen Landen trauen sich kaum über Level 2 (fortschrittliche Assistenzsysteme) hinaus, selbst im Luxussegment werden Schilder falsch gelesen oder Vollbremsungen für Plastiktüten hingelegt. Jüngstes Beispiel: Volkswagen kündigt als Teil der Vision "New Auto" an, der neue Bulli soll irgendwann autonom fahren. Schaut man genauer hin, wird Level 2+ versprochen – ab 2026.

Edge case: Da kommst Du nie drauf!

So auch bei Tesla, die mit ihrem "Autopilot" die Nase vorn haben, jedenfalls was das Testen angeht. Dank der Crowd von Millionen FahrerInnen, die kostenlos Teslas KI trainieren, indem sie Autopilot benutzen kann Tesla immer neue, verbesserte Versionen ausliefern, Stichwort: continuous delivery. So auch beim jüngsten Update vom Juli 2021, in dem jetzt auch innerstädtische Straßen mit Autopilot bewältigt werden können. Aber auch hier wird vor Hoffnungen, die über Stufe 2+ hinausgehen, offiziell von Seiten Teslas in gewohnt lässiger Form gewarnt: "Es wird unbekannte Probleme geben, seien Sie also bitte paranoid".