Fußball-Europameisterschaft: So funktioniert das Spielertracking technisch

"Fußballliebe" heißt der EM-Ball so nett, ist aber ein High-Tech-Gerät mit Sensoren. Seine Daten und KI helfen Schiedsrichtern etwa bei der Abseitserkennung.

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(Bild: FIFA)

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"Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten", sagte Sepp Herberger anno 1954. Heutzutage zieht sich das Spiel mindestens 100 Minuten, weil es ständig unterbrochen wird. Immerhin ist der Ball noch rund, aber ansonsten hat er mit dem rustikalen Spielgerät aus Herbergers Zeiten nicht mehr viel gemein: Der EM-Ball "Fußballliebe" ist ein Hightech-Spielzeug mit Sensorkern, das Stadion mutiert zu einem gigantischen 3D-Scanner. Beide zusammen erheben Unmengen an Spieldaten, die das Match und Schiedsrichtereintscheidungen direkt beeinflussen sowie Echtzeit-Auswertungen und -visualisierungen für die Zuschauer ermöglichen. Dazu erfasst das System die Positionen von Spielern und Ball und bereitet das für die Entscheidung relevante Bildmaterial grafisch auf: mit automatisch generierten Positionslinien sowie Markierungen an den relevanten Körperteilen der beteiligten Spieler. Zugleich fließen die Daten in einen Pool, aus dem Verbände und Vereine die Informationen für ihre Spiel- und Leistungsanalysen schöpfen. Sie bilden auch das Fundament für lukrative Games wie FIFA.

Ihre Premiere feierte die Kombination aus Sensorball ("Al Rihla") und Kameratechnik bei der WM 2022 in Katar: Sie sollte vor allem die Arbeit des Videoschiedsrichters (Video Assistant Referee, VAR) bei der Abseitserkennung beschleunigen. Denn weil der Ball exakt aufzeichnet, wann ein Spieler ihn berührt hat, finden die Hilfsschiedsrichter auch die strittigen Szenen im aufgezeichneten Videomaterial schneller. Die mitunter ineffiziente Suche nach den entscheidenden Frames und die daraus resultierenden zähen Spielunterbrechungen sollten sich erheblich verkürzen, so das Versprechen – von durchschnittlich 70 auf 25 Sekunden.

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Nun kommt die Technik erstmals bei einer Fußball-Europameisterschaft zum Einsatz. Das System hat sich seit seiner WM-Premiere nicht grundlegend verändert, es bleibt bei dem von Adidas/Kinexon entwickelten Ball und dem KI-gestützten Kamerasystem fürs Spieler-Tracking. Seinen großen Auftritt hatte der Sensorball definitiv im WM-Spiel Portugal gegen Uruguay, als er den Beweis erbrachte, dass nicht Cristiano Ronaldo das Auftakttor geschossen hatte, sondern sein Teamkollege Bruno Fernandes. Während die Videobilder zu unscharf waren, verrieten die Sensordaten: Ronaldo konnte den Ball gar nicht mit dem Kopf berührt haben, weil der eingebaute Sensor keine Erschütterung registriert hatte. Nach der Ballabgabe durch Fernandes flachte die aufgezeichnete Messkurve rasch ab und schlug erst wieder aus, als der Ball auf dem Boden auftraf.

c't kompakt
  • Der Video Assistant Referee trackt Spieler und Ball und schlägt bei Verdacht auf Abseits Alarm.
  • Innerhalb von Sekunden steht eine virtuelle Simulation der Spielszene mit Hilfslinien parat, die dem Schiedsrichter bei seiner Entscheidung hilft.
  • KI hilft, Körperextremitäten der Spieler in unübersichtlichen Spielsituationen zuzuordnen.

Deutlich komplexer gestalten sich Datenanalyse und -aufbereitung bei der Abseitserkennung. Anhand maschinell angereicherter Videobilder sollen die menschlichen Assistenten in den Schiedsrichterkatakomben möglichst schnell beurteilen können, ob tatsächlich eine regelwidrige Abseitsstellung vorliegt. Damit auch das Publikum im Stadion die Entscheidung nachvollziehen kann, werden die vom System errechneten Positions- und Kameradaten anschließend in 3D visualisiert, um die Szene direkt auf den Stadionmonitoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen und erklären zu können. Weil die Technik nur potenziell verdächtige Spielerkonstellationen ermitteln, diese aber nicht gemäß den Regeln interpretieren kann, spricht die FIFA von halbautomatischer Abseitserkennung (Semi-automated Offside Technology, SAOT).

Die halbautomatische Abseitserkennung trackt Ball und Spieler mit Zehenspitzen-Genauigkeit und schlägt bei potenziell regelwidrigen Konstellationen Alarm.

(Bild: FIFA)

Mit der Hardware von gestern ist das nicht zu leisten, weshalb Spielstätten und sogar der Ball ordentlich aufgerüstet werden mussten: Im WM-Ball "Al Rihla" und im EM-Nachfolger "Fußballliebe" verbergen sich mehrere Sensoren. Das Spielfeld umrahmen 12 bis 24 Antennen, die deren Signale empfangen. Und in luftiger Höhe unter dem Stadiondach beobachtet ein Ring aus 8 bis 32 Videokameras das Geschehen. Sie sammeln exakte Positionsdaten fürs Echtzeit-Spielertracking, die ein paar clevere Algorithmen auswerten und am Ende in virtuelle Szenen umsetzen.

Virtuelle Zeitlupe für die Stadion-Leinwand: Anhand der Tracking-Daten wird eine 3D-Animation gerendert, um dem Publikum strittige Szenen zu erläutern.

(Bild: FIFA)

Damit mutieren die Fußballarenen zu gigantischen 3D-Scannern – und zu gigantischen Produktionsstätten für Spiel- und Spielerdaten, die die Fußballverbände nun selbst monetarisieren können: bei Medien, Vereinen, Spielerberatern, fürs Scouting und die Trainingssteuerung sowie die lukrative Zweitverwertung in interaktiven Spielen.