Klimaneutralität: Wie Deutschland die grüne Null erreichen kann

Rein rechnerisch kann Deutschland durchaus bis 2050 seine Emissionen komplett auf Null senken. Studien belegen das. Doch wie realistisch sind deren Annahmen?

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Bis Mitte des Jahrhunderts soll Deutschland klimaneutral werden. Wie soll das bloß klappen? Studien, die den Weg dorthin vorrechnen, gibt es reichlich. Zahl auf Zahl fügt sich zu einem hübschen, stimmigen Bild einer emissionsfreien Zukunft. Das klingt schon einmal beruhigend. Doch ist es wirklich so einfach? Wo ist der Haken?

Zum Beispiel bei mitunter sehr mutigen Annahmen. Eine zentrale Säule vieler Szenarien ist beispielsweise die eine dauerhafte Einlagerung von CO2, die im großen Maßstab bisher kaum getestet wurde. Oder ein massiver Import von Wasserstoff und Synfuels, von dem derzeit allenfalls vage Vorstellungen existieren. Oder eine freiwillige Selbstbescheidung der Menschen beim Wohnen und Essen, bei Verkehr und Konsum, für die sich bisherige Trends komplett umkehren müssten.

Das Fraunhofer-Institut für solare Energiesysteme (ISE) etwa unterstellt in seinem "Suffizienz"-Szenario, das ganz im Zeichen der Bescheidenheit steht, für 2050 beispielsweise 30 Prozent weniger "motorisierten Individualverkehr" und 55 Prozent weniger Flugverkehr – heißt: Wer zwei Mal im Jahr per Flugzeug verreist, sollte einen Flug streichen.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 7/2021

Damit wollen die Autoren keineswegs eine Vorhersage wagen, dass es so kommen wird. Es ist nur ein Szenario von vielen. Im Szenario "Beharrung" modellieren sie hingegen eine Welt, die von "starken Widerständen gegen den Einsatz neuer Techniken" geprägt ist. Auch innerhalb dieses Szenarios ließe sich, zumindest hypothetisch, das angesetzte Klimaziel erreichen. Es würde halt nur sehr, sehr viel teurer: 2330 Milliarden Euro an Mehraufwendungen statt 440 Milliarden im Suffizienz-Szenario.

Zu entscheiden, welches der Szenarien das wahrscheinlichste ist, bleibt den Lesern der Studien überlassen. Aber alle Szenarien zeigen: Es wird – auf die eine oder andere Weise – hart.

"Das Ambitionsniveau der 2030er-Ziele ist bisher weder von Politik noch Gesellschaft vollständig verinnerlicht worden", meint Benjamin Pfluger von der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG). "Die Diskussion über Benzinpreiserhöhungen war nur ein Vorgeschmack. Überall, wo Energie eingesetzt wird, werden die Nutzer mitunter anstrengende Anpassungen erleben." Auf die Frage, mit welchen Maßnahmen sich die Transformation gesellschaftlich und politisch umsetzen lässt, können Studien meist nur begrenzt Auskunft geben.

Aber Modellrechnungen seien schließlich "ein methodisches Vorgehen zum Aufzeigen von Pfaden und Zusammenhängen und keine politische Agenda", verteidigt seine Kollegin Ulrike Herrmann den Ansatz. Pfluger ergänzt: "Szenarien sind auch eine Diskussionsgrundlage zwischen den Ministerien. Dann geht das große politische Tauziehen los. Mindestens auf Sachebene werden Szenarien dabei sehr genau wahrgenommen. Es gibt da Fachleute, die haben alle Szenarien der letzten 20 Jahre Seite für Seite gelesen."