Motorradhersteller Norton plant Neustart​

Seite 2: Suche nach Geldgebern

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2019 bot Garner den indischen Motorradherstellern Bajaj und Mahindra vergeblich Minderheitsbeteiligungen an. Im November versuchte er kurzfristig über Crowdfunding Geld aufzutreiben. Er hatte von 446 Kunden und Händlern Anzahlungen entgegengenommen, obwohl kein Geld für die Produktion der Motorräder da war. Es soll zu absurden Situationen gekommen sein: Angeblich wurden Teile von V4-Modelle, die zur Inspektion bzw. wegen Reklamationen (einige der Alu-Rahmen waren aufgrund minderwertigem Materials gerissen) von ihren Besitzern ins Werk gebracht worden waren, ausgebaut und zur Fertigstellung von Neufahrzeugen genutzt. Dann verkaufte Garner Ende 2019 in aller Hektik die Rechte am Commando 961-Motor an die chinesische Marke Jinlang.

Doch irgendwann musste der Schwindel auffliegen. Am 29. Januar 2020 wurde Norton Motorcycles auf Antrag einer Gläubigerbank für insolvent erklärt, weil Garner 7,1 Millionen Pfund Schulden nicht zurückgezahlt hatte. Was der Insolvenzverwalter dann vorfand, übertraf die schlimmsten Erwartungen: Das Einzige, was Garner je wirklich besessen hatte, waren die Rechte an der Marke Norton. Alles andere war mit fremdem Geld und auf Pump finanziert. Garner hatte ein Gespinst aus Firmen aufgebaut, manche liefen auch auf seine Ehefrau, und einige waren in Steueroasen wie den Cayman Islands ansässig.

Seine 64 Angestellten warten auf ihren Lohn, 446 Kunden auf ihre anbezahlten Motorräder, Banken auf die Rückzahlung ihrer Darlehen, der Staat auf Begleichung von Steuerschulden, doch am schlimmsten trifft es wohl die 228 Briten, die ihre Altersvorsorge aus Garners angeblichem Pensionsfonds wohl nie wieder sehen werden. Garner stellte sich hier als Opfer dar, er hätte von nichts gewusst und wäre vom Pensionskassenverwalter Simon Colfer betrogen worden. Doch ein Gericht verurteilte Garner, den Anlegern 17 Millionen Pfund zu zahlen. Daraufhin verkündete Garner kurz vor Weihnachten 2020 seine Privatinsolvenz. Er zog aus dem Schloss Donington Hall in das direkt daneben liegende Gebäude mit "nur" zwölf Zimmern um. Der Insolvenzverwalter hofft auf einen möglichst hohen Verkaufspreis für das Anwesen, um den vielen Gläubigern wenigstens etwas Geld geben zu können. Was Garner zukünftig an Gerichtsverfahren blüht, ist noch offen.

Die vom Insolvenzverwalter zum Kauf angebotenen Rechte an der Marke Norton gingen ziemlich schnell weg, der indische Motorradhersteller TVS schlug am 24. April 2020 für die Summe von 16 Millionen Pfund (rund 19 Millionen Euro) zu. Der TVS-Konzern ist Indiens drittgrößter Motorradhersteller, produzierte 2019 über drei Millionen Krafträder und setzte rund 2,8 Milliarden US-Dollar um.

Wirtschaftskrimi um Norton Motorcyles II (8 Bilder)

Norton entwickelte auf Basis des Motors der Aprilia RSV4 das Superbike V4 RR mit 1200 Kubikzentimeter Hubraum. Es kam 2016 in den Handel, leistete 200 PS und war 28.000 Pfund (rund 31.000 Euro) teuer. Einige Besitzer reklamierten gerissene Alurahmen.

Die Marke TVS ist in Europa bekannt, weil sie die BMW G 310 baut. Die indischen Besitzer wollen die berühmte Marke Norton zum Global Player ausbauen. Zur Freude der Briten errichtete TVS das neue Werk nicht in Indien, sondern für einige Millionen Pfund in Solihull bei Birmingham innerhalb von nur neun Monaten – und das, während Großbritannien von der Corona-Krise schwer gebeutelt wurde. Dort werden die Produktion sowie die Design-, Entwicklungs- und Marketingabteilung untergebracht.

Als Interims-CEO wurde John Russell engagiert, der die Leitung bis auf weiteres übernimmt. Der Brite kann auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken, er war früher unter anderem Vize-Präsident von Harley-Davidson und in der Firmenleitung von Land Rover tätig. Russell zeigte sich begeistert über das Potenzial von Norton, weiß aber auch die Altlasten richtig einzuschätzen.

Deshalb versprach TVS 40 Kunden, die bereits an Garner eine Anzahlung geleistet hatten, dass sie ihre Commando 961 bekommen, sobald das neue Werk angelaufen ist. Man will dafür die Motoren von Jinlang einkaufen und noch vorhandene Teile verwenden. Eine vertragliche Verpflichtung seitens TVS hatte diesbezüglich nicht bestanden, aber man möchte damit ein Zeichen gegenüber den Norton-Fans setzen und Vertrauen zurückgewinnen.

Geplant ist, zunächst das Modell Atlas – ein Scrambler im Retro-Design mit einem 650er-Reihenzweizylinder – und das Superbike V4 RR in Solihull zu bauen. Den Produktionsstart hat Russell für die zweite Hälfte 2021 angepeilt. 55 Norton-Mitarbeiter wurden übernommen, rund 50 neu eingestellt und die Suche nach weiteren Fachkräften ist im Gange.

Die Marke Norton stand in der Vergangenheit nicht immer für Qualität, doch das soll sich ändern, wie Sundarshan Venu, Joint Managing Director von TVS, versichert: "Die neuen Motorräder werden dem Weltklasse-Standard entsprechen, den unsere Kunden erwarten." Dazu müssen aber der V4- und der 650er-Motor erst auf Euro-5-Norm gebracht werden. Das dürfte technisch zwar machbar sein, bedarf aber einer voll einsatzfähigen Entwicklungsabteilung.

Die beiden Modelle werden mit weiteren Problemen zu kämpfen haben: So ist der Sportmotorradmarkt heute verschwindend klein und die V4 SS deshalb nur schwer verkäuflich. Zum anderen ist die Motorradproduktion in England teuer. Nortons ewiger britischer Rivale Triumph lässt deshalb bereits seit langem in Thailand fertigen, um die Preise konkurrenzfähig zu halten. Die Norton Atlas mit ihrem 85 PS starken 650er-Motor war in der Garner-Ära mit 9995 Pfund (rund 11.000 Euro) angedacht, hat es aber nur zum Prototypen-Stadium gebracht.

Es ist fraglich, ob sich der Preis für das fertige Serien-Bike halten lässt und dann trifft die Atlas in der Mittelklasse auf eine große und meist deutlich günstigere Konkurrenz. Sinnvoll wäre die Entwicklung von Modellen in angesagten Segmenten wie Reiseenduros oder modern gestylte Naked Bikes. Die vorhandenen 1200er- und 650er-Motoren könnten zwar adaptiert werden, aber Norton hat in beiden Segmenten keinerlei Erfahrungen. Die Entwicklung entsprechender Bikes in der versprochenen hohen Qualität würde viele Jahre in Anspruch nehmen.

Hinzu kommt die schwere Beschädigung des Rufs der Marke Norton. Als erstes muss deshalb den Kunden glaubhaft mitgeteilt werden, dass Norton einen Neustart gemacht und nichts mehr mit Stuart Garner zu tun hat. John Russell kündigte an, dass die Marke wieder in den Rennsport einsteigen würde, um zu zeigen: "Norton is back". Jedoch ließ er offen, wann und ob es wieder die TT Isle of Man sein würde.

Eine weitere Hürde muss Norton beim Händler-Netzwerk nehmen. Viele frühere Norton-Händler werden wohl aus schlechter Erfahrung davor zurückschrecken, wieder die Marke zu vertreten. Russell möchte zudem Händler mit großem Showroom haben, um Norton als edle Marke präsentieren zu können. Er scheut sich aber in Interviews wohlweislich davor, Norton als "Premiummarke" zu bezeichnen, denn dann müsste er auf Augenhöhe gegen Schwergewichte wie BMW, Ducati oder MV Agusta antreten.

Die Chancen für Norton stehen dennoch nicht so schlecht, denn dank der wirtschaftlichen Absicherung durch TVS wird es wohl früher oder später eine funktionierende Distribution von Norton-Motorrädern geben. Ob es die beiden vorhandenen oder völlig neue Modelle sein werden, ist noch offen. Gewiss aber wird der legendäre Name helfen, die Marke wieder zu etablieren.

(fpi)