Nationale Wasserstoffstrategie: Tafelwasser oder Champagner der Energiewende?

Seite 7: Kritik an der Strategie

Inhaltsverzeichnis

Wie gut ist die Strategie nach einem Jahr gealtert, hat sie überhaupt die Weichen richtig gestellt und was halten die Opposition sowie Verbände davon?

Um es vorwegzunehmen, die größten Streitpunkte sind die Farbvarianten des Wasserstoffs, der genutzt werden soll, die Ausbauziele für die Erneuerbaren zugunsten von grünem H2 und der vorgesehene Einsatz auch im Pkw-Verkehr sowie im Wärmesektor. Vor allem hier gehen die Risse quer durch die Parteien. Aber auch die Ansichten aus der Industrie sowie von Umwelt- und Klimaschutzorganisationen prallen aufeinander. Dazu gibt es generell kritische Stimmen, die vor einer Blase warnen.

Die Wirtschaftswoche etwa monierte jüngst in einer Titelstory über die "Wasserstoff-Illusion", dass die Politik Milliarden Euro in eine vermeintliche Wundertechnologie versenke. Für industrielle Großanlagen mache das Sinn, doch die Affäre um den "Wunder-Lkw Nikola" habe bereits deutlich gemacht, dass es im Straßenverkehr schwer werde. Der "Traum vom wasserstoffgetriebenen Teslajäger auf vier Rädern" made in Germany scheine ohnehin ausgeträumt.

"Die Bundesregierung hat es verpasst, mit einer klaren Priorisierung die Versorgung kritischer Sektoren abzusichern und riskiert eine Verschwendung des kostbaren Energieträgers in zahlungsstarken Bereichen wie dem Individualverkehr", rügt Ingrid Nestle, Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Energiewirtschaft. "Wir Grüne wollen hier die Förderung auf die Sektoren Industrie, Energiewirtschaft und Schwerlastverkehr fokussieren. Zusätzlich fordern wir, Ausbaupfade von jährlich 12 GW bei Solarenergie und 5 bis 6 GW für Wind an Land festzulegen in Verbindung mit einer deutlichen Steigerung ab Mitte des Jahrzehnts und einem ambitionierten Ausbauziel für 2030." Zusätzlich nötig sei eine Vorgabe für den Ausbau von 35 GW Wind auf See bis 2035, verlangt die Wirtschaftsingenieurin. Dabei müsse die "ökologische Tragfähigkeit der Meere in der Fortschreibung der marinen Raumordnung" aber gewahrt bleiben. "Hier beißt sich das Versäumnis der Bundesregierung, eine realistische Strombedarfsanalyse für ein klimaneutrales 2050, geschweige denn 2045, aufzustellen." Grundlegende Fehler der NWS würden jetzt durch die neuen Klimaziele noch verschärft, wonach Deutschland und die EU bis 2045 – und nicht erst fünf Jahre später – klimaneutral werden sollen.

Ferner verlaufe der nationale Markthochlauf für Elektrolyseure zu langsam, bedauert Nestle. Den Akteuren fehle die benötigte Investitionssicherheit. Die Schwierigkeiten der Regierung, die Bremse zu lösen, mache sich auch "bei der schleppenden Einigung zum Energiewirtschaftsgesetz" bemerkbar. Mit der Reform soll die leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Strom und Gas stärker auf erneuerbaren Energien beruhen sowie möglichst sicher, preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient und umweltverträglich sein. Die Grünen seien für ein "innovationsfreundliches Design des Strommarktes, konkrete Förderungen, garantierten Markthochlauf wenn nötig über Ausschreibungen sowie den schnellen Einstieg in ein Wasserstoffnetz", berichtet die Fraktionsexpertin.

Grüner Wasserstoff werde bald "ein unverzichtbarer Baustein der Energieversorgung sein". Er sei kein Allheilmittel, aber dort ein wichtiger Baustein, "wo eine Elektrifizierung nicht möglich oder sinnvoll ist". Dabei ist für Nestle klar, "dass wir den Gasbedarf von heute von den Mengen her nicht eins zu eins in die Wasserstoffwelt von Morgen transformieren können".

Auch Lorenz Gösta Beutin, klima- und energiepolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion "Die Linke", teilt das Bild Scheuers von H2 als Tafelwasser nicht. Das Element sollte ihm zufolge "sorgsam eingesetzt und nicht in allerlei Anwendungen, für die es bessere Lösungen gibt, verschwendet werden". Für den Pkw-Antrieb und Heizungen gebe es bessere Optionen. E-Fuels müsse "ein klare Absage" erteilt werden. Mit Hilfe von grünem Wasserstoff könnten aber Kohle und Erdgas dort ersetzt werden, wo der direkte Einsatz von Ökostrom nicht möglich ist. Hier sieht der Linke einen der Knackpunkte der NWS: "Der geplante Zubau an erneuerbaren Energien wird nicht eingehalten und ist viel zu gering." Nötig sei ein "Boom im Ausbau".

Auch die Importstrategie der Bundesregierung für H2 gehe nicht auf: "Die Herstellung von Wasserstoff über Elektrolyse macht erst bei mindestens 70 Prozent Ökostrom im Netz Sinn, denn sonst steigt die CO2-Belastung. Damit ist auch klar, dass eine Wasserstoff-Erzeugung im globalen Süden für Europa dem Klimaschutz nicht dient. Denn dort liegen die Ökostromquoten weit unter denen in Deutschland, meist unter zehn Prozent."

Insgesamt hält Beutin die Strategie für "ein überdimensioniertes Luftschloss". Sie lenke davon ab, "dass wir eine echte Verkehrs- und Wärmewende benötigen, die den Bedarf an Energie deutlich verringert". Die Linke halte zudem nichts von der Beimischung von Wasserstoff in die Erdgasnetze. Hier bestehe die Gefahr, dass die Kosten über Netzentgelte den Verbrauchern zugeschoben würden. Die Infrastruktur müsse die Industrie bezahlen.

Die konkrete Umsetzung der NWS lasse noch immer auf sich warten, kritisiert Martin Neumann, Sprecher für Energiepolitik der FDP-Fraktion. Trotz der Auswahl erster Förderprojekte sei ein Gesamtplan der Regierung nicht erkennbar: "Die Befreiung grünen Wasserstoffs von der EEG-Umlage ist unter anderem immer noch nicht rechtssicher geklärt und auch der Ausbau der Infrastruktur hinkt hinterher." Es fehle ein ganzheitliches Konzept für das künftige Energiesystem sowie eine integrierte Netzplanung für Strom, Gas und Wasserstoff. Deutschland habe so im internationalen Wettbewerb viel Zeit verloren.

"Grundsätzlich stimmen wir der Auffassung der Bundesregierung zu, dass Wasserstoff als Speichertechnologie für Wind- und Sonnenenergie angesichts einer immer volatileren Stromerzeugung einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten kann", sagt der Liberale aber auch. "Dabei wollen wir keinerlei Anwendungsbereiche von vornherein ausschließen und Wasserstoff überall dort nutzen, wo Effizienz auf Potenzial trifft. Darüber hinaus müssen wir mittelfristig den Wirkungsgrad der Elektrolyse erhöhen und diese dadurch wirtschaftlicher machen."

Anders als Grüne und Linke erachtet Neumann die "von Beginn an einseitige Ausrichtung auf grünen Wasserstoff" als falsch, da sie "Deutschland als Industrie- und Wirtschaftsstandort" nicht gerecht werde: "Erst wenn eine belastbare Infrastruktur aufgebaut und entsprechende Mengen grünen Wasserstoffs zur Verfügung stehen, können wir auf blauen oder türkisfarbenen Wasserstoff verzichten." Bis dahin werde die Bundesrepublik angesichts des gewaltigen Bedarfs an H2 in der Industrie bei Gebäuden oder im Verkehr "alle klimaneutralen Herstellungsverfahren" berücksichtigen müssen.

"Die Bundesregierung hat zwar die Weichen richtiggestellt, aber den Zug noch nicht losgeschickt", gibt das Berliner Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) zu bedenken: Sie habe sich in der NWS zu grünem Wasserstoff bekannt, sehe aber "auch blauen und türkisen Wasserstoff vor". Die Berücksichtigung dieser Farbformen sei für den schnellen Hochlauf einer Wasserstoffwirtschaft nötig. "Doch was fehlt ist die regulatorische Umsetzung dieser Bekenntnisse und somit eine zentrale Voraussetzung für Investitionsentscheidungen."

"Damit grüner Wasserstoff nicht eine durch Regulierung künstlich knapp gehaltene Ressource bleibt, muss die Politik eine Unterquote für grünen Wasserstoff schaffen und die Ausbauziele für Elektrolyseure und erneuerbare Energien massiv erhöhen", umreißt das IKEM den größten Handlungsbedarf. Jeder Euro, der in klimafreundliche Technologien investiert werde, "ist richtig investiert und dringend notwendig". Die Exekutive müsse dafür aber auch verstärkte Kooperationen mit europäischen Ländern wie Griechenland und Spanien anstreben: "Dort gibt es dank der vielen Sonnenstunden ein großes Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff."

Für eine klimaneutrale Stromversorgung müsse "ein Schwerpunkt auf die schnelle Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft gelegt werden", verlangt auch der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. "Jetzt müssen wir gerade im Wasserstoffbereich mutiger, größer und vor allem globaler denken." Damit der Hochlauf gelinge, sollten die Kosten auf der Erzeugerseite etwa durch "konsequente Industrialisierung und Hochskalierung der Elektrolysetechnologien" sowie die "Entlastung des Strompreises" gesenkt werden.

"Das Spektrum für die Nutzung von Wasserstoff ist vielfältig", weiß das frühere Siemens-Vorstandsmitglied. "Deshalb setzt sich die deutsche Industrie für eine breite Anwendungsoffenheit ein und ist gegen staatliche Vorgaben." Allein die Grundstoffindustrie dürfte ihm zufolge 2030 schon 120 TWh Wasserstoff benötigen. "Dafür müssen wir den Zugang zu Wasserstoff möglichst diversifizieren." Für die Anwendung spiele die Farbe "keine Rolle". H2 dürfe – bis hinreichend grüner Wasserstoff verfügbar sei – "notfalls auch blau oder türkis, also aus Erdgas synthetisiert sein".

Schon der direkte Einsatz von Erdgas senke etwa bei der Reduktion von Eisenerz den CO2-Ausstoß um zwei Drittel, verteidigt Russwurm den BDI-Ansatz. "Nur wenn wir das akzeptieren, dürfen wir Investitionsentscheidungen erwarten." Es vertrete ja auch Niemand die Idee, "Elektromobilität erst dann zu starten, wenn der Strom-Mix zu 100 Prozent aus Renewables kommt". In Deutschland allein würden bei allen ambitionierten Ausbauplänen nicht genügend Kapazitäten für erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, um den inländischen Bedarf an grünem Wasserstoff zu decken.

Zuvor hatte der BDI bereits direkt nach dem Beschluss der NWS als deren "größtes Versäumnis" die "verpasste Chance" ausgemacht, das Potenzial des Straßenverkehrs mit seinen sehr hohen Abgaben und Steuern für den Markthochlauf von Wasserstoff und Nachfolgeprodukte zu nutzen. Zwar würden H2-Anwendungen in keinem Verkehrsbereich explizit ausgeschlossen. Es fehle aber an konkreten regulatorischen Instrumenten zur Förderung von synthetischen Kraftstoffen sowie auch der Brennstoffzellenmobilität" bei Pkws.

"Ein genereller Ausschluss von Anwendungsfeldern behindert den Hochlauf eines Wasserstoffmarktes", glaubt ähnlich der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Für ihn steht im Vordergrund, H2 auch im Wärmemarkt einzusetzen und so dort Treibhausgasemissionen zu senken und Klimaschutz bezahlbar zu machen. Eine vorausschauende Energiepolitik müsse Wasserstoff zu einem "breit verfügbaren Massenprodukt" machen. Angesichts der höheren Klimaziele müssten aber auch die Kapazitätsziele für Elektrolyseure angehoben und die Erneuerbaren stärker ausgebaut werden.

Die Mitglieder der "Klima-Allianz" sehen das ganz anders: Der Fokus der NWS auf "erneuerbarer Erzeugung" sei richtig, der "Einsatz in Pkw und Heizung falsch", macht die Deutsche Umwelthilfe klar. Wasserstoff sei gut für einen nachhaltigen Einsatz im Luftverkehr, jedoch "keine Lösung im Straßenverkehr", betont auch der ökologisch ausgerichtete Verkehrsclub Deutschland (VCD).

Die Strategie diene nicht dazu, die Republik "schnellstmöglich in eine klimaneutrale Energieversorgung zu führen", urteilt der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Aufgrund des hohen Stromverbrauchs bei seiner Herstellung könne Wasserstoff immer nur die zweit- oder drittbeste Lösung nach der direkten Stromnutzung sein. Elektrofahrzeuge verbrauchten weniger als das 3,5- bis 5-fache an Strom für dieselbe Wegstrecke als Autos mit E-Fuels. Synthetische Kraftstoffe seien daher "ein klimapolitischer Irrweg". Blauer Wasserstoff sei zudem – jenseits seiner Gefahren für die Umwelt – "teuer und ökonomisch nicht konkurrenzfähig", heißt es beim BUND.

Der Ökoenergieanbieter Greenpeace Energy verweist auf eine von ihm in Auftrag gegebene Studie aus 2020, mit der die Klimaschädlichkeit von blauem Wasserstoff und weitere Risiken durch diese Technik belegt seien. "Unser Strom ist wahrscheinlich erst um das Jahr 2040 herum ausreichend grün, damit der Wasserstoffeinsatz einen Klimavorteil bringt", rechnet Anke Herold vor, Geschäftsführerin am Öko-Institut. "Wenn Kohlestrom zur Wasserstofferzeugung genutzt wird, dann ist Wasserstoff wesentlich klimaschädlicher als heutige fossile Brennstoffe. Daher funktioniert die Wasserstoffstrategie nur zusammen mit einer verstärkten Ausbaustrategie für erneuerbare Energien."

Nötig seien Planungsverbesserungen für die Windkraft an Land, unverkennbar höhere Ziele für Offshore-Windenergie und eine deutlich stärkere Ausweitung der Photovoltaik.

Die Stiftung Klimaneutralität appelliert an die Regierung, die NWS zeitnah weiterzuentwickeln. In einer Studie mit einem Ausblick bis 2045 prognostiziert sie schon für 2030 einen Bedarf von gut 60 TWh Wasserstoff, um das Ziel von 65 Prozent Treibhausgasminderung zu erreichen. Bis 2045 steige der Bedarf auf über 260 TWh. Nur etwa ein Drittel dieser Menge könne aus erneuerbaren Energien im Inland erzeugt werden. Fördergelder müssten angesichts der Knappheit des Gutes daher klar priorisiert, Gebäudeheizungen und Pkws ausgeschlossen werden.

Gemeinsam mit den Denkfabriken Agora Energiewende und Verkehrswende schlug die Stiftung jüngst ein Maßnahmenbündel vor, mit dem ein schneller Ausbau der Erneuerbaren gelingen und ihr Anteil am Stromverbrauch bis 2030 auf mindestens 70 Prozent steigen soll.

Demnach könnten für Windenergieanlagen zusätzliche Flächen verfügbar gemacht, die Genehmigungsverfahren gestrafft und der Zielkonflikt mit den Belangen des Artenschutzes durch Schutzabstände gegen Vogelschlag konstruktiv aufgelöst werden. Ferner soll der Bau von Offshore-Anlagen forciert und die Erzeugung von Solarenergie in Freiflächenanlagen gestärkt werden. Für Neubauten und Dachsanierungen sollen Solarpanels zum verbindlichen Standard werden.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat jüngst ein 100-seitiges Gutachten zu Wasserstoff im Klimaschutz veröffentlicht und fordert "Klasse statt Masse" und "dunkelgrünen" Wasserstoff. H2 könne eine wichtige Rolle für den Klimaschutz spielen, wird aber absehbar ein knapper und kostbarer Energieträger bleiben. Der SRU empfiehlt, alle Anstrengungen auf den Markthochlauf von grünem Wasserstoff aus Wind und Sonne zu konzentrieren. Auch übergangsweise sollte die Politik nicht auf fossil erzeugten Wasserstoff setzen.

Nach Auffassung des SRU eignet sich blauer Wasserstoff nicht als sogenannte Übergangstechnologie, da die dafür notwendige neue Infrastruktur die langfristige Transformation zu erneuerbaren Energien verzögern würde. Die staatliche Förderung von grünem Wasserstoff und Folgeprodukten sollte auf die Verbrauchssektoren fokussiert werden, in denen der Einsatz langfristig erforderlich ist. Dazu gehören vor allem die chemische Industrie, die Stahlindustrie sowie der internationale Schiffs- und Flugverkehr. Für Gebäudeheizungen und im Pkw-Verkehr ist die Nutzung von Wasserstoff hingegen ineffizient und deutlich teurer als eine direkte Elektrifizierung mittels Wärmepumpen und batterieelektrischen Fahrzeugen.

Die Infrastrukturen von Wasserstoff, Erdgas und Strom sollten integriert geplant werden. Grundlage dafür müssen die Klimaziele sein. In der nächsten Legislaturperiode sollten Ausstiegspfade für Erdgas und Erdöl festgeschrieben werden, um Fehlinvestitionen in fossile Technologien zu vermeiden und die notwendige Transformation in allen Sektoren einzuleiten.

Das EU-Parlament forderte derweil in seiner Position zum Entwurf der EU-Kommission für eine europäische Wasserstoffstrategie im Mai den schrittweisen Ausstieg aus fossilem H2 und zwar "so schnell wie möglich". Nur grüner Wasserstoff trage auf lange Sicht nachhaltig zur Erreichung der Klimaneutralität bei. Sollte die Initiative in diesem Sinne verdeutlicht werden, müsste mittelfristig auch die Bundesregierung nachsteuern.

(kbe)