Elektroauto mit chinesischem Komfort: Nio ES6 im Test

Der Europastart der chinesischen Marke Nio steht noch in den Sternen, doch konnten wir bereits den elektrischen ES6 in den Bayerischen Voralpen testen.

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Elektroauto mit viel Komfort: Nio ES 6
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Dirk Kunde
Inhaltsverzeichnis

Lange Strecken im elektrischen ES6 von Nio sind für den Fahrer etwas langweilig. Der Level-2-Assistent hält Spur, Tempo und Abstand. Die Suche nach dem gewünschten Radiosender gestaltet sich schwierig, da das Menü bislang nur auf chinesisch verfügbar ist. Auch die digitale Assistentin Nomi, die in einem beweglichen Kugelsegment auf dem Armaturenbrett residiert, versteht nur Mandarin. Die Beifahrerin schläft auf einem Sitz mit Fußstütze, ähnlich denen in der Business-Class eines Verkehrsflugzeugs.

Mir bleiben der Blick auf die bayerischen Berge, die Angaben im Head-up-Display sowie im Bildschirm hinter dem Lenkrad. Hier zeigt der Autopilot meinen lindgrünen SUV als kleines Symbol. Um mein Auto wabert ein blauer Kreis, fast wie ein Heiligenschein. Er symbolisiert den aktiven Autopiloten. Neben und vor dem Bildschirm-Nio tauchen Pkw, Lkw und Motorräder in Grau auf dem Display auf. Die Erkennung anderer Verkehrsteilnehmer erfolgt ausgesprochen präzise. Dennoch erinnert der Fahrassistent in regelmäßigen Abständen, die Hände am Lenkrad zu lassen. Seine regelmäßige akustische Warnung und die Massagefunktion in meinem Sitz halten mich wach. Willkommen in der chinesischen Oberklasse.

Mein erster Ladestopp am Wasserkraftwerk Walchensee läuft nicht wie erwartet. Wallbox und Auto einigen sich nur auf 3,2 kW mit dem Typ-2-Kabel. Möglich sind 7 kW. Mit der einphasigen Leistung würde eine vollständige Ladung der 70 kWh fassenden Batterie rechnerisch zehn Stunden dauern. Zu lange für Reisen, dafür gibt es auf der rechten Fahrzeugseite einen chinesischen Schnellladeanschluss (GB/T) mit bis zu 100 kW Leistung. Die Nio-Ingenieure haben einen CCS-Adapter gebaut. Damit schaffe ich später an Ionity-Säulen Ladeleistungen bis 85 kW in die aktiv temperierte Batterie. Mit einer Ladung soll der Nio 430 km (NEFZ) weit kommen. Im Test erweisen sich 360 km bei einem Verbrauch von 19,6 kWh auf 100 km als realistischer.

Nio ES6 erster Teil (10 Bilder)

Der Nio ES6 kommt statt wie geplant nächstes oder übernächstes Jahr vorerst mal gar nicht nach Europa. Ob es wirklich an unguten Crashtestergebnissen oder vielleicht eher an finanziellen Schwierigkeiten liegt, ist nicht bekannt.
(Bild: Dirk Kunde)

Die Zeit des Ladestopps nutze ich, um mir anzuschauen, wie aus Sonnenenergie über den Umweg "Wasser" und einen Höhenunterschied Strom wird – garantiert CO2-frei. Mit gutem Gewissen schlängele ich später mit dem SUV die Serpentinen zum Walchensee hinauf. Aus diesem 200 Meter höher gelegenen See wird seit 1924 das Kraftwerk gespeist, das seit bald 100 Jahren mit 124 MW immer noch eines der größten Wasserkraftwerke in Deutschland ist.

In den Kurven unterstützen die in dieser Ausstattung serienmäßige Luftfederung, die mit 265/45 R21 niederquerschnittigen Reifen in Verbindung mit einer zielsicheren Lenkung das Gefühl vermitteln, in einem leichteren Auto zu sitzen. Das hohe SUV wiegt leer mindestens 2345 kg, wankt aber dank einer straff ausgelegten adaptiven Dämpfung kaum spürbar in den engen Kurven. Die Motoren vorn (160 kW) und hinten (240 kW) liefern zusammen 725 Nm Drehmoment. Damit macht der Aufstieg Spaß – und er bleibt weitgehend ungetrübt von Antriebseinflüssen, wie sie bei so großen Kräften und nur einer angetriebenen Achse unvermeidbar wären. Auf gerader Strecke beschleunigt der Nio ES 6 in 4,7 Sekunden von Null auf 100 km/h. Bei Tempo 200 ist Schluss. Auf der bei Motorradfahrern beliebten Bergstrecke sind aus guten Gründen maximal 60 km/h erlaubt.

Für Sekundenbruchteile geht mein Blick immer wieder durch das Panoramadach in den sommerlich blauen Himmel. Der Markenname Nio bedeutet "der blaue Himmel kommt", eine Anspielung auf die Smog-Situation in chinesischen Metropolen. Elektroautos könnten daran etwas ändern.

Unternehmer William Li gründet 2014 die Marke in Shanghai. Im Sommer 2018 kommt der ES8, ein siebensitziges SUV, auf den Markt. Ein Jahr später folgt der fünfsitzige ES6, der 17 cm kürzer ist (4,85 m). In Breite (2,17 m) und Höhe (1,73 m) sind die beiden E-SUV fast identisch. Im September 2020 komplettiert der Nio EC6 das SUV-Trio, mit einer noch stärker vom Coupé inspirierten Dachlinie.

Inzwischen liefen rund 50.000 Fahrzeuge in Hefei in der Provinz Anhui vom Band. Nio steckt die Investorengelder nicht in eine eigene Fabrik, sondern lässt bei der Automarke JAC fertigen. Auch bei seinem jüngsten Coup setzt Li auf Partner. Zusammen mit Batteriehersteller CATL und zwei weiteren Unternehmen gründet er die Battery Asset Company (BAC). Damit werden Elektroauto und Batterie voneinander getrennt. Kunden in China kaufen das Elektroauto bei Nio und mieten die Batterie bei BAC. Damit wird das Auto günstiger und ein Weiterverkauf einfacher.

Auf die Möglichkeit des Batteriewechsels setzt Nio schon länger. Das Unternehmen betreibt 143 Wechselstationen in 64 Städten im Osten Chinas. Innerhalb von drei Minuten entnimmt ein Roboterarm die leere Batterie aus dem Boden und ersetzt sie mit einem geladenen Energiepaket. Beim Angebot Battery as a Service (BaaS) zeigt die Nio-App Fahrern, wo eine Wechselstation steht und ob von den maximal fünf gelagerten Batterien eine geladen und verfügbar ist. Die Idee mit dem Batteriewechsel haben schon andere Unternehmen ausprobiert und wieder verworfen. Schließlich benötigt man mehr Batterien als Autos auf der Straße. Die Batterie-Verfügbarkeit ist jedoch das Nadelöhr der Elektromobilität.

Nio hat Glück, dass die chinesische Regierung jetzt neben Ladesäulen auch Wechselstationen fördert. Außerdem wurde das Preislimit bei der staatlichen Förderung für Wechselautos gestrichen. Den chinesischen Umweltbonus gibt es nur bis zu einem Kaufpreis von 300.000 Yuan. Die Nio-Modelle liegen alle darüber. Der ES6 beginnt bei 358.000 Yuan, umgerechnet 44.000 Euro. Davon werden etwa 1800 Euro Umweltbonus abgezogen. Für die Batterie zieht Nio noch mal rund 8500 Euro ab, so dass der Wagen in China für umgerechnet 33.700 Euro zu haben ist. Für die 70-kWh-Batterie zahlt man monatlich 120 Euro Miete. Wer für den Familienurlaub eine größere Batterie benötigt, leiht gegen Zuzahlung eine 100-kWh-Batterie.

Ob Nio sein Batterie-Wechselsystem nach Europa bringt, ist unklar. Die Fahrzeuge kommen vielleicht Ende 2021, Anfang 2022. Dass es schon heute Testfahrzeuge in München gibt, hat organisatorische Gründe. Nio verfolgt einen globalen Ansatz. Software wird im Silicon Valley entwickelt. Die meisten Hersteller von Oberklassefahrzeugen sitzen in Süddeutschland. Also siedelte Nio seine Design-Zentrale in München an. Hier arbeiten rund 70 Menschen am äußeren und inneren Erscheinungsbild des Autos sowie den Menüs auf den Bildschirmen und der Assistentin Nomi. Sie spricht und auf der Fläche des Kugelsegments sind Mimik und Gestik zu erkennen. Läuft Musik, schwingt sie (optisch) Rasseln oder spielt Gitarre.

Das Navigationssystem im ES6 fühlt sich in Bayern noch nicht zuhause. Baidu liefert keine Kartendaten für die Region. Dafür lässt die Fahrassistenz keine Wünsche offen. Selbst der automatische Spurwechsel funktioniert gut: Blinker setzen und im Display erscheint grün markiert der Pfad auf die andere Spur. Der ES6 wechselt die Fahrbahn, ich muss nur den Blinker wieder ausschalten. Bis Tempo 130 unterstützt mich der Autopilot.

Nio ES6 zweiter Teil (9 Bilder)

Wie im Tesla ist ein Hochformat-Bildschirm in der Mitte angebracht.
(Bild: Dirk Kunde)

Wenn ich die Kontrolle wieder übernehme, habe ich die Wahl zwischen den Fahrmodi Normal, Eco, Sport und Persönlich. In letzterem kombiniere ich meine favorisierte Beschleunigungs- und Rekuperationsleistung.

Um die Route zu meinem Ziel zu finden, nutze ich mein Smartphone. Das liegt in einer Ablage der Mittelkonsole und wird induktiv geladen. Mitfahrer auf der Rückbank haben zwei USB-Anschlüsse, Luftauslässe und eine ausklappbare Armlehne mit zwei Getränkehaltern. Die Verarbeitung der Innenraummaterialien liegt auf Top-Niveau, wie übrigens auch die Akkuratesse der Karosserie-Spaltmaße. Damit setzt sich der chinesische Elektrowagen wohltuend von denen des US-Konkurrenten Tesla ab.

Unser Reisegepäck findet ausreichend Platz im 672, maximal 1433 Liter messenden Kofferraum. Ein angedeuteter Tritt unter die Stoßstange und die Klappe fährt hoch – praktisch bei vollen Händen. Die Ladekante schließt mit dem Innenboden ab, sodass ich nichts darüber heben muss. Vorn unter der Haube gibt es keinen weiteren Stauraum, wie etwa den Frunk bei Tesla.

Die Eindrücke mit dem Testwagen machen deutlich, dass die Nio-Designer ihren Standort offenbar richtig gewählt haben: Sie spielen locker in der Oberklasse mit. Das chinesische Stromauto zeigt beeindruckende Reife und könnte auch in Europa sofort mit den Produkten der selbsternannten deutschen Premiumhersteller mithalten. Audi e-tron (Test) und Mercedes EQC (Test) bieten Ähnliches, sind aber (gemessen am chinesischen Preis) deutlich teurer. Wenn Nio nach Deutschland kommt, wird vielleicht der Himmel blauer, vor allem aber wächst das Angebot für Käufer hochwertiger Elektroautos.

Datenblatt
Hersteller Nio
Modell ES 6
Motor und Antrieb
Motorart Elektro
Leistung in kW 160 / 240
Drehmoment in Nm 725
Antrieb Allrad
Fahrwerk
Spurweite vorn in mm 1668
Spurweite hinten in mm 1672
Radaufhängung vorn Doppelquerlenker
Radaufhängung hinten Mehrlenker
Lenkung Zahnstange, elektrisch unterstützt
Reifengröße vorn 265/45 R21
Reifengröße hinten 265/45 R21
Bremsen vorn Scheibe, innenbelüftet
Bremsen hinten Scheibe
Maße und Gewichte
Länge in mm 4850
Breite in mm 1965
Höhe in mm 1731
Radstand in mm 2900
Kofferraumvolumen in Litern 672 bis 1433
Leergewicht in kg 2345
Batteriekapazität in kWh 70
Fahrleistungen
Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in Sekunden 4,7
Höchstgeschwindigkeit in km/h 200
Testverbrauch Strom Durchschnitt in kWh/100 km 19,6

(fpi)