Elektromotorrad Heritage Spirit Scrambler: Marketing-Vehikel

Der Elektro-Scrambler des Start-ups "Ateliers Heritage Bike" leistet 4 oder 7 kW und bietet 3,2 oder 4,8 kWh Batteriekapazität. Der Preis ist erstaunlich.

vorlesen Druckansicht 114 Kommentare lesen
Heritage Spirit Scrambler

Heritage Spirit Scrambler

(Bild: Ateliers Heritage Bikes)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Ingo Gach
Inhaltsverzeichnis

Das Elektromotorrad Heritage Spirit Scrambler X R4 wurde dem großen Publikum ausgerechnet auf einem Autosalon vorgestellt. Als Renault in Paris sein Elektro-Auto R4 E-Tech präsentierte, durfte das Bike des kleinen, französischen Start-ups dabei sein. Das Auto bekam damit einen lustigen elektromobilen Sidekick, der Hersteller des E-Bikes ein großes Publikum. Bislang bauen die "Ateliers Heritage Bikes" aus Annecy, keine 30 km von Genf entfernt, Elektro-Fahrräder. Beim Aufstieg in die Motorradwelt kommt ihnen Renault als Steigbügelhalter sicher gelegen. Der Vintage-Look der Heritage Spirit Scrambler ist in Kombination mit einem Elektromotor absichtlich paradox, aber optisch gelungen.

Ateliers Heritage Bikes der beiden Gründer Xavier Wargnier und Guillaume Monsigny weist auf der Website vor allem auf zwei Dinge unermüdlich hin: Erstens, dass ihr Elektromotorrad aus Frankreich kommt, und zweitens, dass sich ihre Vision des Vintage-Designs "radikal von anderen Herstellern unterscheidet". Ersteres ist damit zu erklären, dass die Grande Nation Elektromobilitäts-Start-ups hoch subventioniert, vorausgesetzt sie bauen das Fahrzeug in ihrer Heimat. Wobei die meisten Teile des Spirit Scramblers aus dem Ausland stammen, aber dazu später.

Heritage Spirit Scrambler I (6 Bilder)

Die Heritage Spirit Scrambler aus Frankreich ist ein kleines Elektromotorrad mit einem exorbitant hohen Preis. (Bild:

Ateliers Heritage Bikes

)

Den zweiten Punkt widerlegen einige längst erhältliche Elektromotorräder im Retro-Look, von denen wir bisher dachten, sie wären teuer, wie die Maeving RM 1S oder die Black Tea Wildfire. Ateliers Heritage Bikes spricht auf seiner Homepage von der "elektrischen Revolution auf zwei Rädern", und dass die Heritage Spirit Scrambler die "Grenzen der Innovation verschiebt" und versteigen sich dazu, Steve McQueen zu erwähnen. Der "King of Cool" würde vermutlich im Grab rotieren, wenn er es wüsste.

Ein möglicher Grund für diese vielen großen Worte wird beim Blick auf das Preisschild offensichtlich: 23.450 Euro. Wer bei diesem exorbitanten Preis mit mindestens 200 PS und 300 km Reichweite rechnet, wird arg enttäuscht. Der kleine Radnabenmotor im Hinterrad leistet 4 kW, erreicht 45 km/h und kommt laut Hersteller "je nach Nutzung bis zu" 80 km weit. Auch die etwas stärkere Version für 24.450 Euro leistet mit 7 kW nur unwesentlich mehr. Sie soll maximal 99 km/h fahren und eine Reichweite von 110 km haben.

Die schwindelerregende Preisgestaltung begründet Ateliers Heritage Bikes damit, dass die Heritage Spirit Scrambler "viel mehr als nur ein Elektromotorrad" sei. Sie sei ein "wahres Kunstwerk", das von "leidenschaftlichen Handwerkern" in Frankreich entworfen wurde. Jedes Exemplar werde "sorgfältig in Kleinserien von Hand gefertigt", was diesem Motorrad eine "außergewöhnliche Qualität und eine unvergleichliche Einzigartigkeit" verleihe. Direkt neben dem Text sieht man auf einem Foto einen schlichten Doppelschleifenrahmen aus Stahl, wie er nackt in einer Werkstatt steht. Die angepriesene Einzigartigkeit erschließt sich dem Betrachter nicht.

Elektro-Leichtkrafträder

Sicher erinnert die Heritage Spirit Scrambler optisch an ein wenig an die Vorläufer der Enduros aus den 1960er-Jahre. Neben dem Rahmen aus schwarzen Stahlrohren hat sie eine rundliche Tankattrappe sogar mit einem vermeintlichen Tankdeckel, unter der sich die Steckdose verbirgt, eine Sitzbank aus Leder mit gesteppten Nähten und einem angedeuteten Höcker am Ende, wie es einst als sportlich galt. Die kurzen Kotflügel bestehen nicht wie früher aus Stahl- oder Aluminiumblech, sondern aus Verbundmaterial, also Kunststoff.

Heritage Spirit Scrambler II (5 Bilder)

Die Heritage Spirit Scrambler X R4 gibt es in einer Auflage von zehn StĂĽck. Sie kostet 26.900 Euro. (Bild:

Ateliers Heritage Bikes

)

Ein Rundscheinwerfer mit in Fahrzeugfarbe lackiertem Gehäuse soll Flair verbreiten. Das Elektromotorrad rollt auf Drahtspeichenfelgen, auf die sehr grobstollige Reifen (Heidenau K60 Ranger) aufgezogen sind, als solle sie durch das Gelände toben, was aber in Anbetracht der kurzen Federwege von 85 mm vorn und 80 mm hinten nicht zu empfehlen ist. Immerhin bietet die Heritage Spirit Scrambler eine Upside-down-Gabel und der radial montierte Vierkolben-Bremssattel mit einer 320 mm großen Bremsscheibe dürfte ordentlich Bremsleistung aufbauen. Umsetzbar wäre dieser Vorteil allerdings nur mit einer filigranen Straßenbereifung anstelle der montierten Rubbelklotz-Pneus. Im Rahmen hängt ein schwarzer Kasten mit Riffelungen an den Seiten. Dahinter versteckt sich die Batterie, die entweder 3,2 oder 4,8 kWh Energiegehalt hat. Kein Wort des Herstellers zu den Ladezeiten. Die Frage nach ABS oder Verbundbremse bleibt ebenfalls unbeantwortet.

Zusammengebaut wird die Maschine in Frankreich, aber die Excel-Felgen kommen aus Japan, die Gabel von WP aus Österreich, die Bremsen von Brembo aus Italien und die Reifen liefert nicht etwa Michelin, sondern Heidenau aus dem Raum Dresden. Der Hersteller schweigt sich aus, woher die Batteriezellen stammen, daher darf man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, sie kommen aus Fernost. Ganz am Ende eines Textes findet sich der verschämte Hinweis: "Wenn wir in Frankreich kein Zubehör finden, das unseren Kriterien entspricht, bevorzugen wir europäische Akteure". Vermutlich stammen die wenigsten Teile des E-Motorrads überhaupt aus dem Land der Gallier.

Doch Ateliers Heritage Bikes setzt mit der Heritage Spirit Scrambler X R4 noch einen drauf: Dieses Sondermodell mit Sonderlackierung einem anderen Scheinwerfer, größerem Rücklicht, glattem Sitzbankbezug, flacherem Lenker mit anderen Bremshebeln und Lenkerendenspiegeln auf dem Pariser Autosalon neben Renaults Elektroauto stehen durfte, kostet sie 26.900 Euro.

Zum Vergleich
 Damon Hypersport SX

Elektromotorrad Damon Hypersport SX

(Bild: Damon)

Die Hypersport SX der amerikanischen Marke Damon ist ein ernstzunehmender und schicker Sportler mit Vollverkleidung, Monocoque-Rahmen, 15-kWh-Batterie, einem Fahrwerk mit Komponenten von Öhlins, Bremsen des Herstellers Brembo, Schnelllader, 7-Zoll-TFT-Display, Kameras und Radar, leistet 155 PS, fährt 241 km/h und schafft rund 200 km Reichweite. Sie kostet 27.000 Dollar, umgerechnet zurzeit 26.110 Euro. Günstiger als die sehr dürftig ausgestattete Heritage Spirit Scrambler X R4 mit sieben kW.