Erdbeben in Japan: Eine andauernde nukleare Katastrophe [3. Update]

Die Zahl der Toten nach dem verheerenden Erdbeben in Japan stieg mittlerweile auf über 12.000. Die Lage im AKW Fukushima Daiichi entspannt sich keineswegs, die radioaktive Verseuchung der Umwelt nimmt zu; radioaktives Wasser wird ins Meer abgelassen.

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Von
  • Jürgen Kuri

Am 11. März bebte in Japan die Erde: Ein verheerendes Erdbeben der Stärke 9 und ein anschließender Tsunami verwüsteten weite Teile im Nordosten des Landes. Mehr als drei Wochen später steigen die von den japanischen Behörden registrierten Opferzahlen immer noch: Mittlerweile spricht die japanische Polizei von 12.157 Toten. Außerdem werden 15.496 Menschen vermisst. Immer noch aber gibt es Gegenden, in denen die Behörden die Zahl der Toten und Vermissten nicht vollständig erfassen konnten; auch wurde die Suche nach Opfern in der Evakuierungszone 20 km rund um das außer Kontrolle geratene Atomkraftwerk Fukushima Daiichi bereits vor Tagen eingestellt, da die radioaktive Belastung für die Suchmannschaften eine zu große Gefahr darstellt. Die Lage der in Notunterkünften untergebrachten Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten ist weiterhin teilweise sehr kritisch, es soll in einzelnen Lagern immer noch keine Strom- und Wasseranschlüsse geben.

Im AKW Fukushima Daiichi mit seinem insgesamt 6 Reaktoren verschärft sich die Lage in den beschädigten und derzeit nur von außen zu kühlenden Reaktoren 1 bis 3 und in den Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente der Reaktoren 1 bis 4 eher, als dass Tokyo Electric Power die Situation in den Griff bekäme. Nach dem Beben kam es in den Reaktorgebäuden zu Stromausfall, was die Kühlsysteme lahmlegte. Explosionen zerstörten die Reaktorgebäude teilweise schwer, es gab zudem große Schäden am Containment; teilweise werden sogar Beeinträchtigungen der Reaktordruckbehälter vermutet. Durch die fehlende Kühlung wurden die Brennelemente in den Reaktoren 1 bis 3 beschädigt, die Reaktorkerne sind ganz oder teilweise freigelegt. Laut der aktuellen Statusübersicht des japanischen Atomforums vom 4. April 16:00 japanischer Zeit (8:00 mitteleuropäischer Zeit) wird weiter davon ausgegangen, dass es teilweise Kernschmelzen gab, die Gefahr weiterer Kernschmelzen ist noch lange nicht gebannt. Die Kühlsysteme sind ausgefallen, es wird extern Wasser zur Kühlung zugeführt. Die Abklingbecken für abgebrannte Brennstäbe bei den Reaktoren 3 und 4 sind nicht ausreichend mit Kühlwasser versorgt, die Brennstäbe in den Becken teilweise beschädigt. Die Stromversorgung zu den Reaktoren ist zwar wieder intakt, aber die Kontrollräume und die Sensoren arbeiten noch nicht wieder ausreichend, die normalen Kühlsysteme sind noch nicht wieder in Betrieb. Ob sie jemals wieder funktionieren, ist immer noch unklar, auch welche Reperaturarbeiten notwendig sind – bevor diese Arbeiten weitergeführt werden können, muss erst das von außen zugeleitete und mittlerweile radioaktiv verseuchte Kühlwasser, das sich auf dem Boden der Reaktorgebäude angesammelt hat, abgepumpt werden. Gleichzeitig muss aber neues Wasser zugeführt werden, um die Reaktoren zu kühlen.

Am Wochenende war bekannt geworden, dass radioaktiv verseuchtes Wasser aus dem Schacht im Reaktor 2, in dem Stromkabel verlegt sind, ins Meer abgeflossen sind. Der Kraftwerksbetreiber ist sich nach eigenen Angaben noch immer nicht schlüssig darüber, wie radioaktives Wasser aus dem AKW ins Meer gelangen kann. Die Kontamination des Meerwassers wurde am Wochenende auf einen Riss im Beton eines Schachts unterhalb des Kraftwerks zurückgeführt; Tests hätten aber ergeben, dass dies nicht der Fall sein könne. Wie das verseuchte Wasser ins Meer gelange, werde weiter untersucht.

Die Messwerte für das Wasser in dem Schacht lagen bei 1000 MilliSievert pro Stunde und mehr. In Reaktor 4 wurden weitere ähnliche Wasseransammlungen in Schächten entdeckt, hier lag die Belastung bei 100 MilliSievert pro Stunde. Die UN-Atomagentur IAEA hält eine radioaktive Dosis durch die natürliche Umweltstrahlung von 0,2 bis 0,3 MikroSievert pro Stunde (2,4 MilliSievert pro Jahr) für normal, in Deutschland liegt die natürliche Umweltstrahlung bei bis zu 0,2 MikroSievert pro Stunde (1,7 MilliSievert pro Jahr). In Pilzen in der Präfektur Fukushima wurden wie früher schon in anderen Gemüsen erhöhte radioaktive Werte festgestellt: Die Belastung der Pilze mit radioaktiven Jod-Isotopen lag bei 3.100 Becquerel, mit Cäsium bei 890 Becquerel. Die erlaubten Grenzwerte betragen hier 2.000 Becquerel respektive 500 Becquerel.

Bislang gehen sowohl Kraftwerksbetreiber als auch die japanische Regierung davon aus, dass das Stopfen der Lecks, durch die Wasser aus dem Kraftwerk ins Meer gelangt, lange dauern könnte – wenn die wirkliche Ursache der Lecks denn einmal identifiziert ist. Derweil gehen die Arbeiten am Abpumpen des verseuchten Wassers, das in den Reaktorgebäuden steht, weiter – das Wasser stammt aus den externen Kühlversuchen, da die normalen Kühlsysteme ausgefallen sind. Um die Steuerungs- und Kontrolleinrichtungen wieder in Betrieb nehmen zu können sowie Versuche zu starten, die Kühlsysteme der Reaktoren wieder in Gang zu setzen, muss dieses Wasser erst wieder abgepumpt werden. Behindert werden diese Arbeiten durch nicht ausreichende Kapazitäten in den Tanks, die das Wasser aufnehmen sollen. Außerdem muss zur Kühlung der Reaktoren und der Brennstäbe in den Abklingbecken immer wieder Wasser von außen zugeführt werden, was dann teilweise ebenfalls in den Reaktorgebäuden herumschwappt. Mittlerweile gibt es Pläne, rund 11.500 Tonnen Wasser aus den Tanks, das nur schwach radioaktiv belastet sein soll, direkt ins Meer zu leiten, um die Situation in den Reaktorgebäuden zu entspannen. Die radioaktive Belastung des Wassers liege rund 100 Mal über dem erlaubten Grenzwert, erklärte der Kraftwerksbetreiber.

[1. Update (4.4., 15:25): Mittlerweile hat der Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power damit begonnen, insgesamt 10.000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer vor dem AKW Fukushima Daiichi abzulassen. Damit soll Platz in den Tanks geschaffen werden, um das weit stärker kontaminierte Wasser, das in den Reaktorgebäuden herumschwappt, abpumpen zu können. Nach Angaben von Tokyo Electric Power liegen die Messwerte in dem Wasser, das abgelassen werden soll, 100 Mal über dem zulässigen Grenzwert. Mit welchen Isotopen das Wasser belastet ist und wie hoch die Dosis tatsächlich ist, darüber machte der Kraftwerksbetreiber keine näheren Angaben. Die gemessene Radioaktivität des Wassers, das aus den Reaktorgebäuden anschließend in die Tanks gepumpt werden soll, liege aber bis 10.000 Mal über den Grenzwerten; in anderen Informationen sprach Tokyo Electric Power von einer gemessenen Dosis von 1000 MilliSievert und mehr pro Stunde.

Der UN-Atombehörde IAEA hatte Tokyo Electric Power mitgeteilt, die Belastung eines Menschen nach dem Ablassen der 10.000 Tonnen radioaktiv verseuchten Wassers würde um 0,6 MilliSievert pro Jahr steigen, wenn er jeden Tag im Jahr Fisch aus dem Meerwasser am Kraftwerk äße; wieweit diese Zahlen verlässliche Angaben darstellen, darüber gab die IAEA keinen Kommentar ab. Techniker der IAEA haben am 4. April in der Umgebung des AKW an sieben Stellen Radioaktivitätsmessungen vorgenommen; in Entfernungen zwischen 30 und 41 km vom Kraftwerk wurden dabei zwischen 0,7 und 12,5 MicroSievert pro Stunde gemessen.

Neben den 10.000 Tonnen Wasser aus den Tanks bei Reaktor 2 sollen auch 1.500 Tonnen Grundwasser, die ebenfalls radioaktive Materialien enthalten, aus der Nähe der Reaktoren 5 und 6 ins Meer gepumpt werden. Diese beiden Reaktoren und die dort befindlichen Kühlbecken befinden sich im Unterschied zu den Reaktoren 1 bis 4 und ihren Kühlbecken in einem stabilen Zustand, die Kühlsysteme funktionieren. Allerdings könne das kontaminierte Grundwasser die Kühlsysteme gefährden, hieß es von Tokyo Electric Power.

Man habe das Schwergewicht bei den Maßnahmen nun darauf gelegt, dass nichts von dem hoch radioaktiv verseuchten Wasser ins Meer gelange, erklärte der japanische Regierungssprecher Yukio Edano. Das Ablassen des schwacher kontaminierten Wasser bedeute kein größeres Gesundheitsrisiko, es sei zudem unbedingt notwendig, um die Sicherheit im Kraftwerk wieder herstellen zu können.

Die japanische Regierung gab auch bekannt, dass mindestens 25 Länder weltweit den Import von Gemüse und anderen Nahrungsmitteln aus Japan eingeschränkt oder ganz eingestellt haben, da sie Verseuchung mit radioaktiven Materialien aus Fukushima Daiichi befürchten. Die japanische Regierung forderte zwar alle Länder auf, entsprechend den Regeln der WTO (World Trade Organization) keine Importbeschränkungen einzurichten, die keine wissenschaftliche Grundlage haben; sie hatte aber selbst die Auslieferung von Spinat und Milch aus den Präfekturen Fukushima, Ibaraki, Tochigi und Gunma untersagt. Saudi-Arabien hat daraufhin den Import aller frischen Lebensmittel aus Japan untersagt, andere Länder haben ein Importverbot nur für einzelne Produkte verhängt. Japanische Bauern hatten bereits darauf gedrängt, die Grenzwerte für die erlaubten Radioaktivitätsdosen in Lebensmitteln heraufzusetzen, die japanische Regierung hat das bislang aber abgelehnt.

Die IAEA gibt in einem aktuellen Statusreport an, dass in Teilen der Reaktorgebäude 1 bis 4 die Stromversorgung seit dem 2.4. soweit wiederhergestellt ist, dass das Licht funktioniert. Die weiteren Arbeiten an der Stromversorgung für Kontrollräume, Messsensoren, Pumpen und den gesamten Kühlsystemen, die notwendig sind, um die Reaktoren wieder unter Kontrolle zu bekommen, machen kaum Fortschritte. Fast alle Aktionen konzentrieren sich auf die Beseitigung des radioaktiv verseuchten Wassers in den Reaktorgebäuden sowie parallel dazu der Kühlung der Reaktoren und der Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente durch Wasserzufuhr von außen.]

[2. Update (5.4., 10:05): In einer Meerwasser-Probe, die in der Nähe des AKW Fukushima Daiichi genommen wurde, sind weiter stark erhöhte Konzentrationen von radioaktiven Isotopen gemessen worden. Laut Tokyo Electric Power lag die Konzentration von Jod-131 bei 300.000 Becquerel pro Kubikzentimeter, das sei 7,5 Millionen Mal über dem erlaubten Grenzwert. Die Probe wurde am 2.4. 11:50 japanischer Zeit genommen; in einer Probe vom 4.4. 9:00 japanischer Zeit wurden noch 200.000 Becquerel pro Kubikzentimeter gemessen. Die Probe vom 4.4. soll zudem eine Konzentration von Cäsium-137 aufgewiesen haben, die 1,1 Millionen Mal über dem erlaubten Grenzwert lag.

Aus den Reaktorgebäuden 1 bis 3 in Fukushima Daiichi und den Kanälen unter den Gebäuden müssen laut der US-Atomaufsichtsbehörde NISA rund 60.000 Tonnen verstrahltes Wasser entfernt werden. Sie sollen in Tanks im AKW, einem Lager für radioaktiven Müll auf dem Gelände, in provisorischen Tanks (die im Laufe des Monats in das AKW geschafft werden sollen), auf einer "künstlichen Insel" im Meer vor dem Kraftwerk und auf US-Lastschiffen.

Die Arbeiten gingen weiter, um die Lecks zu entdecken und zu stopfen, aus denen hoch radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer abfloss. 11.500 Tonnen schwach radioaktiv kontaminierten Wassers wurden ins Meer abgelassen, um Tankkapazitäten zur Aufnahme von Wasser aus den Reaktoren frei zu bekommen – weitere solche Maßnahmen sollen aber künftig möglichst vermieden werden, erklärte der japanische Industrieminister Banri Kaieda.]

[3. Update (5.4., 17:15): In Kleinen Sandaalen, die vor der Küste von Ibaraki gefangen wurden, sind in Fischen erstmals Konzentrationen radioaktiver Substanzen gefunden worden, die oberhalb der Grenzwerte liegen. Laut der Präfektur von Ibaraki wurden bis zu 4.080 Becquerel Jod-131 pro Kilogramm gemessen. In einem anderen Fang lag die Dosis von Cäsium-137 bei 526 Becquerel pro Kilogramm. Der Grenzwert liegt bei 500 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm. Das Fischen nach dieser Fischart wurde eingestellt; man geht allerdings davon aus, dass nicht das Wasser vor Ibaraki verseucht war, sondern die gefangenen Fische aus dem Meer vor Fukushima zugewandert sind. Die japanische Regierung hat mittlerweile den Grenzwert für die gemessene Belastung auf 2000 Becquerel Jod-131 pro Kilogramm Meeresfrüchte oder Fisch festgelegt; dies entspricht den derzeit gültigen Grenzwerten für Gemüse.

Kraftwerksbetreiber Tokyo Electric Power hatte begonnen, Flüssigglas in den Schotter um Kanäle am Reaktor 2 zu leiten. Damit sollte das Leck abgedichtet werden, aus dem hoch radioaktiv verseuchtes Wasser unkontrolliert ins Meer gelangt. Zwar kennt Tokyo Electric Power die genaue Ursache des Lecks nicht, meint aber, durch das Flüssigglas sei der Abfluss des kontaminierten Wassers schon geringer geworden. Mit der Maßnahme soll daher weitergemacht werden, bis das Leck ganz geschlossen ist.

Die jüngsten von der Polizei bekanntgebenen Zahlen über die Opfer des Erdbebens und der Flutwelle liegen bei 12.431 Toten und 15.153 Vermissten.]

Siehe zum Erdbeben in Japan und der Entwicklung danach auch:

Zu den technischen Hintergründen der in Fukushima eingesetzten Reaktoren und zu den Vorgängen nach dem Beben siehe:

  • Roboter und die Katastrophe in Japan
  • Lesen in den Isotopen, Spaltprodukte aus dem AKW Fukushima I finden sich inzwischen in aller Welt und erlauben Forschern neue Einblicke in den GAU in Fernost
  • Die unsichtbare Gefahr, Technology Review ordnet die Strahlenbelastungen im AKW Fukushima Daiichi und seiner Umgebung ein
  • Japan und seine AKW, Hintergrund zu den japanischen Atomanlagen und zum Ablauf der Ereignisse nach dem Erdbeben in Telepolis
  • Der Alptraum von Fukushima, Technology Review zu den Ereignissen in den japanischen Atomkraftwerken und zum technischen Hintergrund.
  • 80 Sekunden bis zur Erschütterung in Technology Review
  • Dreifaches Leid, Martin Kölling, Sinologe in Tokio, beschreibt in seinem, Blog auf Technology Review, "wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht".
  • 15 Meiler um eine Stadt, Martin Kölling berichtet direkt aus Japan: Atomingenieure in Tsuruga, der Stadt mit der höchsten Reaktorendichte der Welt, gruseln sich vor dem GAU in Fukushima
  • Mobilisierung im Netz: Auch in der Katastrophenhilfe ist das Internet zu einem mächtigen Instrument geworden, auf Technology Review

(jk)